Ausgezeichnet geschildert, leider ein wenig überladen

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viv29 Avatar

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In „Raffael“ bringt uns Noah Martin in das Italien der Renaissance und läßt uns in eine Zeit eintauchen, in der sich prachtvoller Kunstsinn neben Korruption und Grausamkeit entfaltet. Auf über 600 Seiten wird dies detailreich und opulent erzählt – so detailreich und opulent, daß Raffael in dem nach ihm benannten Roman leider lange Zeit eher eine Nebenrolle einnimmt.

Wir lernen Raffael im Jahr 1494 kennen, als Jungen, der gerade seinen Vater verloren hat, und von Anfang an gelingt es dem Autor, die Szenerie auferstehen zu lassen. Der Schreibstil ist das ganze Buch hindurch ausgesprochen angenehm, die Beschreibungen gelungen und lebhaft. Raffael und sein Freund Daniel werden sofort mit Leben gefüllt. Daniel ist eine fiktive Person, es werden uns im Roman aber auch erstaunlich viele historisch belegte Personen begegnen. Ein fünfseitiges Personenverzeichnis zeigt an, welche Personen historisch belegt und welche fiktiv sind. Das fünfseitige Personenverzeichnis weist aber auch schon auf einen Punkt hin, der mir an dem Buch nicht sehr gut gefallen hat – es ist zu viel von allem. Gerade in der ersten Hälfte des Buches wechselt die Szenerie in jedem Kapitel. Sind wir eben noch im beschaulichen Elternhaus Raffaels in Urbino, werden wir kurz darauf ins Schlachtengetümmel unter Cesare Borgia gestürzt, um dann plötzlich mitten im Vatikan wieder neuen Charakteren zu begegnen. Es werden so viele Charaktere eingeführt, daß ich mich auf keinen davon wirklich einlassen konnte und ich muß gestehen, daß ich am Anfang mehrerer Kapitel verzweifelt aufseufzte, wenn schon wieder ein neuer Name erschien. Alle diese Charaktere werden ausgiebig beschrieben und bei einer solchen Fülle an Hintergrundgeschichten und Informationen ist das Lesevergnügen beeinträchtigt – jedenfalls war es bei mir so. Auch rissen die ständigen Szenenwechsel mich immer wieder heraus. Weniger ist mehr, das fiel mir beim Lesen ständig ein.

Die ersten zwei Drittel hindurch war das Buch für mich kein Roman über Raffael, da er viel zu wenig vorkam. Es geht um Kriege, um Politik, um Intrigen, nur kaum um Raffael. Dies ist alles hervorragend recherchiert und ausgezeichnet erzählt, nur war es mir wesentlich zu überladen und paßte überhaupt nicht zu dem, das ich aufgrund des Klappentextes von dem Buch erwartete. Auch die zahlreichen ausführlichen Kriegsschilderungen waren überhaupt nicht mein Fall. Insofern muß ich zugeben, daß die ersten zwei Drittel des Buches ein sehr gemischtes Vergnügen für mich waren. Im letzten Drittel geht es dann endlich wirklich und ausschließlich um Raffael. Das war ein wahres Lesevergnügen und hat mir gezeigt, wie sehr ich das gesamte Buch genossen hätte, wenn es sich seiner eigentlichen Thematik etwas konzentrierter gewidmet hätte.

Beeindruckend ist das fundierte historische und kunsthistorische Wissen – hier merkt man, daß der Autor Kunstgeschichte nicht nur studiert hat, sondern auch wirklich für sein Thema brennt. Die ausgesprochen verwickelte Geschichte des heutigen Italien in jenen Jahren wird uns sehr sorgfältig geschildert, historische Personen wie u.a. Leonardo da Vinci und Michelangelo, sowie die drei Päpste, die Rom zwischen 1494 und 1520 erlebte, werden hier lebensnah und echt geschildert. Man kann absolut in diese Welt eintauchen. An manchen Stellen waren mir die Dialoge ein wenig zu modern (besonders gestolpert bin ich über die Formulierung „Es könnte mir nicht egaler sein…“), aber im Allgemeinen paßten Dialoge und historische Details gut zur Zeit. Besonders interessant fand ich die Schilderungen, wie Rom in jenen Jahren aussah, diese Mischung aus Ruinen der Antike und vatikanischen Prachtbauten; auch das Leben der einfacheren Bevölkerung in z.B. Siena wird hervorragend in die Geschichte eingebunden, überhaupt sind die historischen Hintergründe immer passend in die Geschichte eingeflochten. Italienische Begriffe werden immer wieder mal verwendet, sorgen so einerseits für Lokalkolorit, aufgrund eines fehlenden Glossars leider auch manchmal für ein wenig Verwirrung.

Eine farbige Landkarte Italiens in Vorder- und Hinterdeckel war sehr willkommen, auch die innere Gestaltung ist ansprechend. In einem kurzen Nachwort gibt der Autor einen kleinen Überblick über historische Abweichungen, die er bewußt vorgenommen hat und erklärt seine Inspiration für die Geschichte, was informativ war. Auch die im Buch beschriebenen Hintergründe zu vielen Kunstwerken waren interessant und ich habe mir so manches erwähnte Gemälde im Internet angesehen.

So ist „Raffael“ ein Buch, das sich durch eine gelungene Kombination von sorgfältig recherchierten Fakten und gelungenem Schreibstil auszeichnet und aus dem man viel lernen kann, das aber meiner Ansicht nach inhaltlich viel zu überladen war und sich von der eigentlichen Geschichte zu oft entfernte. Lesenswert ist es jedenfalls allemal.