Requiem für einen Gehängten

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buecherfan.wit Avatar

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In seinem Roman “Requiem” - im Original “Orchid Blue” - greift Eoin McNamee einen Fall auf, der sich 1961 in Nordirland zugetragen hat. Auf dem Heimweg von einer Tanzveranstaltung wurde die 19jährige Kosmetikverkäuferin Pearl Gamble ermordet. Ihre nackte Leiche wurde am nächsten Morgen gefunden. Schnell nahm die Polizei den 26jährigen Robert McGladdery ins Visier. Er hatte an dem Abend dreimal mit ihr getanzt, kannte sie aber nicht näher. Obwohl es keine Zeugen, keine forensischen Beweise und kein Motiv gab, machten die Geschworenen buchstäblich kurzen Prozess mit ihm: er war Ende 1961 der letzte Ire, der durch den Strang hingerichtet wurde.
Inspector Eddie McCrink ist nach 20jähriger Abwesenheit aus London zurückgekehrt, wo er erfolglos in einer Serie von Prostituiertenmorden ermittelt hatte. Er hat eine Stelle in Belfast angetreten und ist für den Fall McGladdery zuständig. Er merkt schon sehr bald, dass der Angeklagte keinen fairen Prozess bekommen wird. Als Angehöriger der chancenlosen Unterschicht ist er von der Polizei, von Richter Curran, von der ganzen Stadt verurteilt worden, lange bevor die Verhandlung beginnt.
Richter Lance Curran hätte überall sonst als befangen gegolten und den Vorsitz von sich aus ablehnen müssen, aber er hat seine eigenen Pläne. Seine 19jährige Tochter Patricia ist neun Jahre zuvor ermordet worden. Damals wurde ein Mann verurteilt, aber nicht gehängt, sondern für einige Jahre wegen Unzurechnungsfähigkeit eingesperrt, bevor er mit neuer Identität nach Schottland gebracht wurde. Auch bei diesem Mordfall war die Rolle des Richters ausgesprochen dubios. Richter Curran will sich für den Verlust seiner Tochter rächen, indem er jemand zum Tode verurteilt, egal ob schuldig oder nicht. Außerdem möchte er seine Tätigkeit in Nordirland mit einem Paukenschlag beenden und als Richter des Kronrats Karriere machen.
Inspector McCrink stößt auf die alte Mordsache, sieht, wie schlampig und voreingenommen auch damals ermittelt, wie viel vertuscht wurde, um die Familie des Richters zu schützen, aber er wird bei seinen Nachforschungen behindert und massiv bedroht. Die Mächtigen in Justiz und Politik werden über jeden seiner Schritte informiert, und er kann nicht verhindern, dass Robert McGladdery ohne Ermittlungen, die diesen Namen verdienen, nach erlittener Polizeibrutalität und mit Hilfe von wahrscheinlich untergeschobenen Beweismitteln zum Tode verurteilt wird.
McNamee zeichnet das Bild einer durch und durch korrupten, bigotten Gesellschaft, in der sich die Herrschenden nicht um Recht und Gerechtigkeit scheren - Innenminister Faulkner mischt sich direkt in den Prozess ein und fährt einen harten Kurs, um London zu beeindrucken -, aber auch die verarmte Unterschicht kommt nicht gut weg: sie reden den Mächtigen nach dem Mund, verraten sich gegenseitig, und ihre Zeugenaussagen sind zum großen Teil erfundene Geschichten.
McNamees Roman ist kein Thriller, kein Whodunit - obwohl man eigentlich gern wissen würde, wer den Mord nun wirklich begangen hat. -, aber er ist dennoch packend, weil er zeigt, in welchem politischen und gesellschaftlichen Klima ein solches Unrechtsurteil möglich ist. Wie schon bei seinem vorhergehenden Roman “Blue Tango”, der die Ermordung der Richtertochter zum Thema hat, vermischt er Fakten und Fiktion, die so untrennbar miteinander verbunden sind, dass der Leser nicht sagen könnte, wo die Reportage aufhört und die Erfindung anfängt. Der Autor macht deutlich, dass er nicht an McGladderys Schuld glaubt, auch nicht an die Echtheit des von einem Geistlichen am Tag der Hinrichtung bezeugten Schuldgeständnisses, aber auch er kann den Fall fünfzig Jahre nach den Ereignissen nicht lösen. Vielleicht kommt es darauf aber auch gar nicht an. Es ist ihm offensichtlich vor allem wichtig zu zeigen, wie wenig wir sicher wissen können, wenn gezielte Fehlinformationen, politische Intrigen und Abergaube die Wahrheit verschleiern. “Requiem” ist ein sehr beeindruckender, gut lesbarer Roman, den ich uneingeschränkt empfehle.