Sehr beeindruckendes Geschichtsbuch!

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elisa Avatar

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Am 16. Januar 2023 erscheint „Rote Sirenen – Geschichte meiner ukrainischen Familie“ von Victoria Belim, und ich hatte das große Glück, dieses Buch bereits jetzt lesen zu dürfen – vielen lieben Dank an den Aufbau-Verlag und Vorablesen für das kostenlose Leseexemplar. Victoria Belim hat ein ganz wunderbares Buch geschrieben, dass ich in einem Atemzug nennen möchte mit „Sie kam aus Mariupol“ von Natacha Wodin und „Vielleicht Esther“ von Katja Petrowskaja. Aus dem Englischen übersetzt von Ekaterina Pavlova.

Victoria Belim hat als 15-jährige die Ukraine verlassen und wurde Amerikanerin. Seit einigen Jahren lebt sie in Brüssel. 2014 reiste sie nach Jahren der Abwesenheit für längere Zeit in die Ukraine, um ihre Großmutter zu besuchen und einige Leerstellen in ihrer Familienbiografie zu füllen. Doch nahezu jede ukrainische Familiengeschichte ist verbunden mit der schmerzvollen Geschichte des Landes im 20. Jahrhundert, die geprägt ist von der Terrorherrschaft Stalins, der Zwangskollektivierung, dem Holodomor in den 30er Jahren und dem Zweiten Weltkrieg. Wie in fast jeder Familie sind auch in Victorias Verwandtschaft Verluste zu beklagen. Von einem besonderen Geheimnis umgeben ist das rätselhafte Verschwinden ihres Urgroßonkels Nikodim in den 30er Jahren. Bis heute hüllt sich die Familie in Schweigen, wenn dieser Name fällt. Die Autorin möchte das Geheimnis für sich lüften, doch sie steckt dabei in einer Zwickmühle, denn ihrer Großmutter Valentina ist das gar nicht recht, sie mauert und wird abweisend, sobald Victoria den Versuch unternimmt, ihr Fragen zur Vergangenheit zu stellen. Gegen Valentinas erklärten Willen möchte sie nicht vorgehen, zu wichtig ist ihr das Verhältnis zur Großmutter, das bereits durch ihre Emigration gelitten hat. Die beiden Frauen verbringen viel Zeit miteinander bei der Bewirtschaftung des Kirschgartens, der ein Erbe der Urgoßmutter Asja ist und von Valentina am Leben gehalten wird. Doch eine wirkliche Nähe will sich zunächst nicht einstellen, zu viel Ungesagtes steht zwischen ihnen.

Ich habe einiges gelernt bei der Lektüre dieses Buches. Zum Beispiel über das Sticken. In Reschetyliwka, einer Stadt in der Zentralukraine, wurde die Weißstickerei entwickelt. Das ist eine sehr kunstvolle und schwierig herzustellende Handarbeit, die heute auf der Anwartschaftsliste der UNESCO für immaterielles Kulturerbe steht. Von einer Sticklehrererin, deren Bekanntschaft die Autorin macht, stammt ein wie ich finde gewichtiges Zitat (S. 122): „Dachten Sie, dass die sowjetische Lebensweise mit dem Staat verschwunden wäre? Es wird noch lange dauern, bis wir verlernt haben werden, sowjetisch zu denken und zu handeln.“ Diese Aussage steht im Zusammenhang mit der Feststellung, wie viel Sowjetunion noch heute (bzw 2014) in der Ukraine zu finden ist: zahlreiche Lenin-Statuen in den Innenstädten auf Straßen und Plätzen (Ausnahe: Kiew und Liwiw), Straßennamen und architektonischer Brutalismus, aber auch Vorgehensweisen in der Bürokratie und dem Miteinander zeugen von jahrzehntelangem sowjetischen Einfluss. Sehr ausführlich schreibt die Autorin über den Holodomor, die große Hungersnot in den 30er Jahren, ausgelöst durch die Zwangskollektivierung in der Landwirtschaft. Alle Bauern sollten ihre Selbstständigkeit aufgeben und ihr Land, ihr Werkzeug, ihre Ernten und ihre Arbeitskraft an die Kolchosen abtreten und Lohnempfänger werden. Das stieß auf erbitterten Widerstand, der sehr viele Todesopfer forderte. In der Folge wurde die Bevölkerung der Ukraine regelrecht ausgehungert. Dabei war es nicht so, dass es – trotz schlechter Ernten – kein Korn gegeben hätte – nur eben nicht für die Ukrainer (sowie auch nicht für die zentralasiatischen Republiken, die ähnlich stark betroffen waren), sondern für Russland und für den Export. Besonders erschüttert hat es mich, zu lesen, dass „Der Staat (…) Trotzkisten, Nationalisten oder Saboteure entlarven (musste) und (…) (dabei) eine Quote zu erfüllen (hatte). Was Nikodim tatsächlich getan hatte, war dabei irrelevant.“ (S. 252) Dass in Diktaturen staatliche Willkür eine große Rolle spielt, ist mir klar, aber es hier so schwarz auf weiß zu lesen, macht mich sprachlos. Ich könnte noch viele erschütternde Zitate benennen, aber – lest es selbst! Unbedingt! „Rote Sirenen“ ist ein außerordentlich beeindruckendes Debüt, inhaltlich und sprachlich herausragend gut und – leider - brandaktuell. Es hat auf der Liste der Bücher, die mich 2022 besonders beeindruckt haben, einen Platz ganz, ganz oben.