Ist Roderick Macrae ein „moralischer Idiot“ aus der „Verbrecherrasse“?

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blomster78 Avatar

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Im Schottland des Jahres 1869 geschieht in dem kleinen Bauerndorf Culduie ein brutaler Dreifachmord. Nachdem Roderick Macrae, ein 17-jähriger Einwohner des Dorfes seine Täterschaft unumwunden zugibt wartet er im Gefängnis auf seinen Prozess. Dort trifft er nicht nur auf Ärzte, die ihn hinsichtlich seiner geistigen Gesundheit „untersuchen“, sondern auch auf einen ihm wohlwollend gesinnten Verteidiger, Mr. Sinclair. Dieser rät Roderick („Roddy“) dazu, seine Beweggründe für die Tat niederzuschreiben. Sehr umfangreich und mit für einen armen Bauerssohn überraschend präziser Wortwahl schreibt Roddy seine Lebensgeschichte nieder. Ob das Mr. Sinclair dabei hilft Roddy im sich anschließenden Prozess vor dem Galgen zu bewahren?

Dieses Gerichtsdrama ist in mehrere Kapitel unterteilt, die jeweils eine andere Betrachtungsweise auf die Geschehnisse in Culduie haben. Zeugenaussagen, medizinische Gutachten über sowohl die Opfer als auch den geistigen Zustand des Täters, Roddys Lebensbericht und die Berichterstattung über den Prozess ergeben ein differenziertes Gesamtbild und machen deutlich, wie schwer und ungeradlinig „Gerechtigkeit“ ist.

Die Frage, ob es tatsächlich eine wahre Geschichte ist oder nicht hat mich insbesondere anfangs umgetrieben; dies trat aber bis zum Ende des Buches zusehends in den Hintergrund. Als viel zentraler ergab sich während des Lesens die Frage nach Macht und Machtmissbrauch der Obrigkeiten und Kirche. Fasziniert war ich von der Sichtweise der damals beginnenden Kriminalanthropologie und der aus heutiger Sicht haarsträubenden „Psychologie der Verbrecher“.

Das Buch lässt mich etwas nachdenklich zurück, ich habe durch die Lektüre dazugelernt und das Gefühl, meinen Horizont erweitert zu haben. Trotzdem habe ich mich teilweise nicht gut unterhalten gefühlt – nicht wegen des bedrückenden Themas, sondern weil mir viele Passagen, insbesondere bei Roddys Aufzeichnungen, zu sehr in die Länge gezogen waren. Es gibt einige Wiederholungen, die hinsichtlich der Nachvollziehbarkeit des Gerichtsprozesses unverzichtbar sind, die mich aber dennoch gelangweilt haben. Insgesamt würden weder Buch noch Handlung Schaden von einem deutlich geringeren Umfang nehmen.

Aufgrund der Abbildung hatte ich auf eine knittrige Haptik des Einbandes gehofft; leider umsonst.