"Gedrängte Lage"

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern
irisblatt Avatar

Von

Atemlos berichtet die namenlose Ich-Erzählerin, Autorin und Mutter einer kleinen Tochter, von ihrem streng getakteten Alltag, Beziehungsproblemen, Geldnöten und Schreibblockaden. Nach einer von Albträumen geplagten Nacht, in der sie die Angst befällt, ihr Stiefvater Siegfried könnte gestorben sein, scheint alles über ihr zusammenzubrechen. Sie kann Siegfried nicht erreichen, sehnt sich nach einer Verschnaufpause. Die Psychiatrische Klinik scheint ihr der geeignete Ort, um ein wenig Ruhe zu finden. Sie wünscht sich Ordnung in ihrem Leben; jemanden der weiß, was sie tun soll.
Während sie viele Stunden im Wartezimmer verbringt, überlässt sie sich ihren Erinnerungen und Gedanken.
Finanziell war ihre Herkunftsfamilie bestens gestellt, doch hinter der Fassade herrschte ein rauher, liebloser Ton. Siegfried war häufig auf Geschäftsreise, immer begleitet von seiner Ehefrau, die seine Untreue und seine Gewaltausbrüche fürchtete. Die Ich-Erzählerin verbrachte daher als Kind viele Wochen bei ihrer exzentrischen Großmutter Hilde, Siegfrieds Mutter, mit ihren eigenwilligen Vorstellungen und Erziehungsmethoden. Am siebten Tag der Woche pflegte Hilde stolz „gedrängte Lage“ aufzutischen. Ein Gericht, das aus sämtlichen Essensresten der vorangegangenen sechs Tage bestand, aufgeschichtet zu einem Auflauf. Dabei spielte es weder eine Rolle, ob die Reste geschmacklich zueinander passten noch ob sie unverdorben waren. Gegessen wurde, was auf den Tisch kam.
Für mich steht dieses Gericht sinnbildlich für den psychischen Zustand der Protagonistin, ihre prägenden Erlebnisse, ihre verinnerlichten Glaubenssätze, ihre Bedrängnis, die sie letztendlich zusammenbrechen lässt.
Siegfried ist trotz seiner meist physischen Abwesenheit immer im Leben seiner Stieftochter präsent. Er hat ihre Sicht auf die Welt geprägt. Noch als Erwachsene beurteilt sie Menschen durch seine Brille, fragt sich, was Siegfried wohl dazu sagen würde. Als sie sich in einen Mann aus einem ganz anderen Milieu verliebt, weiß sie, dass Siegfried ihn als "weichen Versager" nicht gutheißen wird. Trotzdem bleibt sie mit ihm zusammen, genießt ihre Beziehung sehr, gerade weil er so anders ist. Doch als der Alltag durch Geldnöte und die Versorgung eines Kleinkindes immer stressiger wird, fallen ihr plötzlich all die „Makel“ auf, die Siegfried längst in ihrem Partner gesehen hat. Sehr geschickt zeigt Antonia Baum wie mächtig die Prägungen unserer Herkunftsfamilien fortwirken, wie schwer es fällt, sich von diesen zu lösen, vor allem dann, wenn wir unter großen Belastungen stehen.
„Siegfried“ ist ein eindringlicher, lakonisch erzählter Roman, in dem Herkunft und gesellschaftliche bzw. eigene Erwartungshaltungen verhandelt werden. So unscheinbar das Cover, so kraftvoll und zugleich müde und verzweifelt liest sich der Text, der vor allem die Zustandsbeschreibung einer Familie liefert und als erste Bestandsaufnahme Einblicke in die psychische Verfassung der Ich-Erzählerin gewährt. Das offene Ende war für mich unbefriedigend, passt letztendlich aber gut und bietet Raum für eigene Gedanken. 4,5 Sterne!