unbewältigte Vergangenheit

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Leerer Stern
reiselust Avatar

Von

Die junge Ich-Erzählerin begibt sich nach einer Auseinandersetzung mit ihrem Lebensgefährten in die Psychiatrie-Ambulanz. Sie hört überall Sirenen, ist mit ihrem Alltag, Kleinkind, Beruf, Beziehung, Haushalt überfordert und seelisch am Ende. Im Warteraum der Ambulanz reflektiert sie ihr Leben: Kindheit, Familie, Heranwachsen, beruflichen Werdegang, Beziehungen zu Männern.

Im Mittelpunkt der Geschichte steht ihr Stiefvater Siegfried, ein Ästhet ohne Herzenswärme, reicher Geschäftsmann, jähzornig und ihrer Mutter gegenüber gewalttätig. Weitere Hauptprotagonistin ist Hilde, Siegfrieds Mutter und quasi ihre Oma, die sie mit Härte erzieht, während Siegfried und ihre Mutter auf Reisen sind. Erwachsen, lernt sie Alex kennen, der Gegenentwurf zu Siegfried und wird selbst Mutter einer kleinen Tochter.

Die Ich-Erzählerin hat ihre Vergangenheit bislang nicht wirklich verarbeitet und scheint diese nun durch die Reflektion ihrer Lebensgeschichte während sie in der Psychiatrie-Ambulanz auf Hilfe wartet, aufzuarbeiten. Also gewissermaßen eine Form der Selbsttherapie.

Die Autorin kann schreiben und die Überforderung, die durch das jahrelange Bestreben, gut genug zu sein und sich anzupassen, entstanden ist, wird sehr deutlich nachvollziehbar. Eine große Rolle spielt dabei ihr charismatischer Stiefvater, dem sie sehr zugeneigt ist, auch wenn sie schon als Kind ahnt, dass er die Mutter unterdrückt und schlägt. Nach der Scheidung der Mutter von Siegfried bleibt sie ihm mehr verbunden als ihrer Mutter, die sie dennoch sehr liebt. Diese Ambivalenz und Sprachlosigkeit zwischen Mutter und Tochter wird sehr gut herausgearbeitet. Ebenso wie die Tatsache, dass sie die skurrile Stiefoma trotz schrecklicher Erziehungsnethoden irgendwie zu mögen scheint.

Bis ins Erwachsenenalter bleibt sie Siegfried, der sie finanziell stets unterstützt hat, verbunden und vergleicht sogar Alex mit Siegfried, dem weltgewandten, erfolgreichen Geschäftsmann, während Alex als Barkeeper arbeitet und aus "einfachen" Verhältnissen stammt, ganz ander als der Akademiker Siegfried. Dass dieses Leben und vor allen Dingen diese permanent Gefühlslage anstrengend ist und zur völligen Überforderung führt, verwundert nicht. Der Schluss des Romans läßt dagegen auf eine Zukunft für die Ich-Erzählerin mit Alex und Tochter hoffen.

Der Roman zeigt eindringlich und eindrucksvoll, wie sich das Schweigen und Wegsehen von Eltern und Großeltern und überhaupt in Beziehungen auf die Psyche der Beteiligten auswirken kann. Dabei wirkt die Beschreibung der Charaktere, insbesondere Siegfrieds und Hildes, nicht anklagend oder verurteilend. Vielmehr scheinen sie ihrerseits Gefangene ihrer eigenen Herkunft und Geschichte zu sein. Ich vergebe 4 Sterne und eine Leseempfehlung