Gegen Hirngrippe kann man sich einfach nicht mit Händen und Füßen wehren

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elke seifried Avatar

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„Da konnten die Ärzte noch so viel von einer Angsterkrankung faseln, ihr Medikamente verschreiben und an einen Therapeuten überweisen wollen. Sie war die Chefin über ihren Körper und es gab keinen verdammten Grund dafür, dass ihre Hände jedes Mal anfingen zu zittern, sobald sie sich ans Steuer setzte. Sie hatte einen wichtigen Job in einer hoch angesehenen Werbefirma, und sie hatte eine Tochter, um die sie sich kümmern musste. Sie hatte keine Zeit für diesen Blödsinn.“ Davon ist die zweiundvierzigjährige Jessica Hanser fest überzeugt, muss jedoch bitter einsehen, dass ihr das Oberkommando über sich selbst schon längst entglitten ist. Laut Nachbarin Hildegard, der verrückten Katzenfrau, könnte man es „Hirngrippe“ nennen oder mit den Worten ihrer genervten, augenverdrehenden Tochter Miriam einfach auch mit „Mama du bist gerade total überfordert mit irgendwie allem. Und es wird anscheinend nicht besser, wenn du dich nicht ausruhst. Also musst du dich ausruhen!“, beschreiben.
Als Leser darf man Jessica eine Weile begleiten und aus ihrer Perspektive erleben, wie es sich anfühlt, unter einer Angsterkrankung zu leiden. Man muss sich mit ihr Sorgen um den Job machen, sich der nervenden Anrufe ihres Chefs erwehren und auch mit den Launen ihrer pubertierenden Tochter Miriam herumschlagen. Zudem darf man sich mit Nachbarin Hildegard anfreunden und schließlich sogar noch um den halben Erdball reisen, bis man gemeinsam mit ihr erkennen darf, was wirklich zählt im Leben.
„Ihre Füße traten schlicht und ergreifend in einen Streik und taten so, als sei die Gravitation plötzlich mehr, als sie bewältigen konnten.“ Wirklich toll hat die Autorin das Thema Angsterkrankung, Panikattacken dargestellt. „ Ich wusste echt nicht, wie übel das für dich ist mit dem Autofahren. Ich dachte irgendwie, du stellst dich einfach an.“. Auch von Jessica hätte diese Aussage vor dem Beginn ihrer Erkrankung stammen können und sie stemmt sich mit Kräften dagegen. „Hören Sie ich will nicht über meine Kindheit reden oder so was. Ich will einfach nur wieder Auto fahren können. Wenn´s sein muss, nehme ich dafür auch Tabletten.“, sind ihre Worte zum Therapeuten. Wie belastend und schwierig es ist, sich selbst damit abzufinden und auch welche Probleme das Umfeld meist leider immer noch mit einer psychischen Erkrankung hat wird hier gelungen thematisiert.
Freunde sind wichtig, es gibt immer etwas zu tun, aber manchmal eben auch Dinge, die wichtiger sind, seinem Gegenüber genauer zuhören, sich wirklich für ihn zu interessieren und auch auf sich selbst achten, das sind hier Botschaften, die man als Leser erhält, was mir wirklich sehr gut gefallen hat.
Der Schreibstil der Autorin liest sich locker, leicht und die kurzen Kapitel fliegen nur so dahin. Ich habe die Seiten wirklich verschlungen und mich richtig gelungen unterhalten gefühlt, lediglich das doch für mich etwas zu dramatische Ende, hat den fünften Stern gekostet. Ich konnte auch immer wieder schmunzeln, was mir immer gut gefällt. Da kann schon mal auf ein „Siehst du er ist seltsam.“, über den brasilianischen Jack Sparrow ein „Andere Leute glauben daran, dass eine Jungfrau durch Windbestäubung den Sohn Gottes ausgetragen hat.“, kommen, Lobend erwähnen möchte ich hier auch noch die relativ große Schrift, der zudem auf den Seiten viel Raum gegeben wird, was das Lesen ebenfalls zur entspannten Angelegenheit macht.
Ich konnte mich sofort in Jessica hineinversetzen. Sie ist die pflichtbewusste Karrierefrau, die ihrer Tochter Wohlstand bieten will, auch wenn sich Vater Thomas nach einem Burn Out auf einen Baum im Amazonas verabschiedet hat, schlechthin. Völlig ausgepowert fehlt ihr Zeit und Kraft sich auf die wirklich wichtigen Dinge zu konzentrieren. Auch wenn sie sich kein wenig auf Ich-Botschaften versteht, war sie mir sympathisch. Töchterchen Miriam habe ich zu Beginn eher als verzogenes Teenie Girl eingeschätzt, musste meine Meinung jedoch nach und nach ändern. Meine absolute Lieblingsfigur war Nachbarin Hannelore. Sie kümmert sich nicht nur aufopferungsvoll um alle Katzen, die auf der Straße leben müssen, sondern steht Jessica auch mehr als selbstlos bei, selbst wenn sie dabei einige Beleidigungen hinnehmen muss. „Ich kenn dich ja nicht anders als kratzbürstig.“, ist hier ihre einfache, schlichte Erklärung, wie sie so gut wie für jede Lebenslage eine parat hat. Aber nicht nur das, ich konnte auch unheimlich viel über sie schmunzeln, gerne hätte ich auch so eine Hannelore zur Freundin.

Alles in allem hat es bei mir für fünf Sterne nicht ganz gereicht, ganz knapp daran vorbei geschrammt. Ich hatte wirklich gelungene, entspannende und auch berührende Unterhaltung mit „Solange wir uns haben“.