Familiengeheimnisse gibt es doch

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Leerer Stern
buecherfan.wit Avatar

Von

Der Roman “Sommer der Wahrheit”, den die als Autorin der Taunuskrimis bekannt gewordene Nele Neuhaus unter ihrem Mädchennamen Löwenberg veröffentlicht, setzt im Jahr 1994 ein. Im Mittelpunkt steht Sheridan Grant, die nach dem Unfalltod ihrer Eltern als knapp Dreijährige von Vernon und Rachel Grant adoptiert wurde. Die Familie hat vier leibliche Söhne und ist ungeheuer reich. Sie leben auf der riesigen Willow Creek Farm in Fairfield Nebraska. Sheridan war und ist nicht unglücklich in der Familie, die sie aufgenommen hat. Zu ihrem Adoptivvater hatte sie lange Zeit ein sehr gutes Verhältnis, weil er ihr mehr Freiraum ließ als seine hartherzige, pedantische Frau Rachel. Rachel stammt aus einer ultramethodistisch geprägten Familie und zwingt allen ihre intolerante freudlose Frömmigkeit auf. Ihre Adoptivtochter lehnt sie ab. Sie hält sie “für unnützes Unkraut mit unheilvollen Genen” (S. 21) und beschimpft sie als Missgeburt (S. 33).

Eines Tages kommt es zur Katastrophe. Sheridan hat sich wieder einmal dem Verbot ihrer Eltern widersetzt und sich mit ihren Freunden in der alten Getreidemühle getroffen, um Musik zu hören und von einem anderen Leben zu träumen. Für ihre Eltern sind die jungen Leute, allen voran der junge Jerry Brannigan, Pack oder Gesindel und damit kein Umgang für ihre Tochter. An diesem Tag werden die Jugendlichen festgenommen, weil sie unbefugt das abgesperrte Gelände betreten haben und einige von ihnen geraucht und getrunken haben. Sheridan wird von ihrem Vater bei Sheriff Benton abgeholt und zum ersten Mal geschlagen. Später denkt sich die Mutter hasserfüllt harte Strafen für ihre Tochter aus. Sheridan fühlt sich von ihrem Adoptivvater im Stich gelassen und sieht ihren Platz nicht mehr in dieser Familie.

Die Leseprobe liest sich gut und weckt das Interesse am Fortgang der Geschichte. Was wird in der Halloweennacht geschehen, auf die der Klappentext anspielt? Was bedeutet der Hinweis des Sheriffs auf eine Frau namens Carolyn, über die Vernon Grant nicht sprechen will? Der Leser sieht die Geschehnisse aus der Perspektive der jungen Sheridan, die als Ich-Erzählerin fungiert und hat damit den gleichen Informationsstand wie sie. Mit ihr zusammen wird er den Sommer der Wahrheit erleben und die verborgenen Familiengeheimnisse aufdecken.

Mir gefällt, dass dieser Roman sich so authentisch in einen bestimmten Trend in der amerikanischen Erzählliteratur einfügt, dass man meinen könnte, er sei von einem Amerikaner oder einer Amerikanerin geschrieben. Es geht um das Bild des ländlichen Amerika, wo viele Menschen ein Leben in Armut und Hoffnungslosigkeit führen, wo die Versprechungen des amerikanischen Traums eben nicht gelten. Die jungen Leute aus Sheridans Clique wollen nur noch weg, so bald wie möglich, so weit weg wie möglich, um der Langeweile in ihrem öden Kaff zu entfliehen. Werden sie es schaffen? Ein vielversprechender Romananfang.