Der Sonntagsspaziergang

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laleli Avatar

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Es ist Sonntagnachmittag, sie hat mit der Familie gegessen und nun hat sie frei.

Draußen scheint die Sonne hell auf den glitzernden Schnee und man könnte spazieren gehen, überlegt sie. Wie immer würde niemand mit ihr gehen wollen,  aber das macht ja nichts, sie könnte ihre Stöcke nehmen und allein loslaufen, den Weg, auf dem man am Sonntag so viele Nachbarn trifft, sich zunickt, grüßt, ein paar Worte wechselt. Doch gerade jetzt graut ihr etwas vor der Kälte und es ist ja noch länger hell, sie wird einfach später loslaufen.

 

Sie setzt sich ans Laptop, das auf dem Sofatisch steht, griffbereit für jeden in der Familie, auch wenn es schwer für sie ist, ihre Söhne davon loszueisen, wenn sie sich im Netz mit ihren Freunden unterhalten. Doch nun ist es still im Haus, niemand braucht sie im Moment und sie kann sich treiben lassen, Mails lesen oder Nachrichten, Klatsch und Tratsch. Sie freut sich auf die neueste Leseprobe, das ist wohl ein Thriller, etwas Spannendes, das passt gut zu einem ruhigen Sonntagnachmittag in der Kleinstadt.

Sie öffnet die Seite, beginnt zu lesen…SORRY- es geht also um Entschuldigungen, ja, da gäbe es auch so einige Leute, sich bei ihr entschuldigen könnten, grinst sie…und liest weiter:

 

Vom plötzlich aufgefundenen Adressbuch, von der Frau, die der Erzähler wieder findet, im Adressbuch und in der Wirklichkeit, obwohl sie fortgezogen ist.

Die er aufsucht, mit einem Bild in der Hand, das ihre Schuld belegt. Die Frau ist Ende vierzig, nur ein paar Jahre älter als sie selbst, überlegt sie. Das Bild zeigt zwei Jungen auf dem Fahrrad – vielleicht so alt wie ihre eigenen Söhne.

 

Ihr Herz beginnt zu klopfen, als die Frau mit Gas wehrlos gemacht und an ihre Hinrichtungsstätte gebracht wird. Wozu die Fototapete auf der gegenüberliegenden Wand, wozu dieser grausame Mord mit den Nägeln? Beim Lesen presst sie sich die Hände auf den Mund, ihr Herz rast jetzt. Was mag diese Frau getan haben, um soviel Hass zu verdienen?

Sie liest weiter, die nächste Episoden schildern andere Begebenheiten, die sich noch nicht zu einem Erzählstrang zusammenfügen…ihr Herzklopfen lässt nach. Sie bleibt zurück mit einzelnen Puzzlesteinen einer Geschichte und vielen Fragen.

Sie atmet durch, macht sich eine Tasse Tee und liest noch mal…Puzzelsteine und Fragen bleiben, das Herzklopfen stellt sich wieder ein, wenn auch etwas weniger heftig.

Sie öffnet eine leere Seite, die sie mit Buchstaben bedecken möchte, starrt darauf, sie ist weiß wie der Schnee draußen. Der Tee in der Tasse ist kalt geworden, im Zimmer ist es nun dunkel bis auf das helle Viereck des Bildschirms. Sie wird nicht mehr spazieren gehen an diesem Sonntag…