Das neue Decameron

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buecherfan.wit Avatar

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 Die erfolgreiche und gutsituierte Schriftstellerin Phoebe Fox bucht über Weihnachten einen zehntägigen Aufenthalt im luxuriösen Wellnesshotel Castle-Spa, nachdem ihr Mann das Haus unbewohnbar gemacht hat und dann zu seiner kranken Mutter in die USA geflogen ist. Im Zug lernt sie die Journalistin Mira Miller kennen, mit der sie sich bald anfreundet. Im Castle-Spa kommt eine Gruppe erfolgreicher, teils berühmter Frauen zusammen, die im Laufe ihres Aufenthalts ihre Lebensgeschichten erzählen. Anfangs gibt es noch sporadisch Anwendungen, später stellt die Anlage ihre Leistungen fast komplett ein. Besitzerin Lady Caroline ist zahlungsunfähig, und das Personal läuft ihr davon. Am Schluss halten nur noch die Empfangsdame Beverley und ein junger Mann namens Euan die Stellung. Als nicht einmal mehr ein Koch da ist, halten sich die Gäste an den Vorräten in Kühlschränken und Kellern schadlos. Da es zum Konzept des Hauses gehört, dass Handys und Computer während des Aufenthalts tabu sind, sind die Damen fast völlig von der Außenwelt abgeschnitten. Dazu trägt auch das Wetter bei: es wird zunehmend schlechter. Erst als ein massiver Wintereinbruch mit ergiebigen Schneefällen droht, flüchten die Damen.

Bis zu diesem Augenblick haben alle außer Phoebe Fox ihre Geschichte erzählt. Die Gäste repräsentieren verschiedene Schichten und Berufe. Da gibt es die Trophäenfrau, die Gehirnchirurgin, die transsexuelle Richterin, die Ex-Pfarrersfrau, die Verschwörungstheoretikerin, die Psychoanalytikerin, die Fingernagelstilistin , die Unternehmerin, die Hypothekenmaklerin usw. So unterschiedlich die Frauen sind, so verschieden sind auch ihre Geschichten. Da passiert wenigen Charakteren so viel wie den Protagonisten in den Fortsetzungsgeschichten der Seifenopern, was in dieser Häufung in beiden Genres völlig unrealistisch ist.

Zusammengehalten werden die Erzählungen durch die Figur der Phoebe Fox, die anfangs Ich-Erzählerin ist, später diese Funktion an die einzelnen Damen abgibt. Phoebe hat keine besondere Geschichte zu erzählen, aber sie beabsichtigt, das Gehörte zu einem Roman zu verarbeiten. Sie macht sich deshalb Notizen und nimmt die Geschichten heimlich auf. Leitmotivisch durchziehen Phoebes Sorgen um den Zustand ihrer Ehe den Roman. Sie misstraut zunehmend ihrem Mann, vermutet sogar, dass er eine Affaire hat, sich am Ende gar wieder mit seiner Jugendliebe Jenny zusammentut.

Diese zwischen die Geschichten eingestreuten Passagen sind als Rahmenhandlung etwas dünn und auf die Dauer nicht von großem Interesse. Auch die Geschichten selbst sind von unterschiedlicher Qualität und nicht alle gleichermaßen spannend und interessant. Was die Leseprobe mit der Auftakterzählung der Trophäenfrau versprach, kann der Roman insgesamt nicht halten. “Spa-Geflüster” hat Längen und ist keineswegs immer so witzig, bissig und ironisch, wie man es eigentlich von der großen alten Dame der feministischen Literatur kennt. Hinzukommt, dass die damals 75jährige Autorin sich selbst (zum Teil wörtlich) zitiert und Geschichten aus ihrem umfangreichen Opus neu aufbereitet. Insgesamt ist Spa-Geflüster” etwas enttäuschend, nicht nur im Vergleich mit den frühen Romanen - für mich ist “Beste Feindinnen” unübertroffen -, sondern auch gemessen an den berühmten Vorbildern, nämlich Boccaccios Decameron und Geoffrey Chaucers Canterbury Tales, die vor ca. 650 Jahren Maßstäbe setzten.

Zum Schluss noch eine Bemerkung zur Qualität der deutschen Ausgabe: sie hätte eine gründlichere Lektoratsarbeit vertragen können. Fehler fallen störend auf. Was - bitte schön - ist ein Kursverwalter (S. 57), und was soll das seltsame Wort “Exmittierung” (S. 332)? Sollte es sich da am Ende um eine Zwangsräumung handeln? Nach dem Abendessen am Ankunftstag trinken die Frauen Champanger und Grappa. Dann steht da folgendes: "Wir spürten den zweiten, dann den dritten Wind." (S. 38) Zieht es im Bankettsaal, oder ist das Teil des Wetterberichts? Wohl kaum. Im Original wird vermutlich die Wendung "to get one´s second wind" gebraucht, was so viel heißt wie "den toten Punkt überwunden haben." Die Frauen in unserer Geschichte schaffen das also gleich zweimal. Wie gesagt, etwas mehr Sorgfalt wäre wünschenswert.