Lesehighlight schlechthin

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elke seifried Avatar

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»Geschichte, wie bitter sie auch sein mag, ist Realität, die täglich in unserer Gegenwart und die in unsere Zukunft fortwirkt.«

Ein Stück dieser bitteren Geschichte lässt Susanne Abel in ihrem großartigen, fesselnden Roman wieder aufleben und zeigt dabei wie erschreckend wenig wir daraus gelernt haben. Für mich jetzt schon das LESEHIGHLIGHT des Jahres schlechthin.

Der bekannte und beliebte Kölner Nachrichtenmoderator Tom Monderath ist Lebemann, der keine Party und keine hübsche Frau auslässt. Jäh aus seinem für ihn scheinbar perfekten Leben reißt ihn seine Mutter Greta, als diese nachts eine Spritztour unternimmt, sich auf der Autobahn nicht mehr zurechtfindet und es keinen Weg mehr gibt um die Erkenntnis, „DEMENZ. Dieses Wort darf sich nicht in seinem Hirn breitmachen. Er konzentriert sich auf das Atmen, versucht, sich zu beruhigen, und wirft seiner Mutter einen unsicheren Blick zu. »Mam, jetzt erzähl mir mal alles, damit ich es kapiere.« Greta schaut ihn an. »Wie?« »Was ist passiert, dass du mitten in der Nacht durch halb Deutschland fährst?« »Jetzt mach nicht so einen Aufstand. Ich hab dich früher auch überall rausgeholt. Und hab ich jemals gefragt? Bist du jetzt sauer, oder was?« »Nein. Ich bin nicht sauer.« Tom weiß, dass er lügt. Er ist stinksauer. Er könnte platzen vor Wut.“. Sein erster Gedanke, sie muss ins Heim, ich habe schließlich auch ein Leben, wackelt schnell, als er nicht nur Unterstützung von Nachbarin Helga bekommt, sondern auch mehr aus Gretas Vergangenheit erfährt, was ihm sie näher bringt, als sie ihm jemals war.

Als Leser darf man im Jahr 2015 den Nachrichtenmoderator bei seiner Arbeit begleiten, erfährt von Gretas kleinen und größeren der Demenz geschuldeten Aktionen und findet nach und nach mit ihm mehr Hinweise auf ihre Vergangenheit, die sie stets verschwiegen hat, und die er jetzt zu recherchieren beginnt. In sich abwechselnden Kapiteln reist man in die Vergangenheit, die im Jahr 1939 in Ostpreußen beginnt. Euphorie für den Führer in der Schule eingetrichtert, den Krieg überstanden und dann fast erfroren im eisigen Winter auf der Flucht vor russischen Soldaten, Unerwünschtsein als Flüchtlinge im deutschen Heidelberg, sich dort auf dem Schwarzmarkt nicht nur vor dem Verhungern retten, sondern auch Erfolge erzielen oder sich mit den GI´s und Besatzern arrangieren sind nur einige Schlagworte dazu. Mehr will ich gar nicht verraten, denn dann geht es darum, langsam verstehen zu können, warum Greta das Foto eines kleinen Mädchens mit dunkler Haut so gut versteckt hat.

528 Seiten, ich weiß nicht wann ich zuletzt so viele Seiten regelrecht weginhaliert habe. Die Autorin hatte mich mit ihrem mitreißenden Schreibstil sehr schnell völlig in ihren Händen. Vielleicht auch ein wenig, weil ich meine persönlichen Erlebnisse mit einem dementen Vater für solche Hauptprotagonisten, wenn sie derart authentisch dargestellt und mit einem solchen einnehmenden Wesen ausgestattet sind, besonders empfänglich machen, ist mir die Geschichte sofort ans Herz gegangen. Aber auch mit dem Ausflug in die Vergangenheit hatte mich die Autorin emotional völlig am Wickel. Szenen die einem das Herz erwärmen, die einen lächeln, schmunzeln, und manchmal auch richtig grinsen lassen, wechseln sich lange Zeit ab mit solchen, die tief schockiert, stellenweise tatsächlich mit offenem Mund lesen lassen, die dann zunehmen und von einer besonders traurigen Geschichte erzählen. Man liest schockiert, man wird aufgerüttelt, einem werden die Augen geöffnet, aber die Autorin schafft eine tolle Balance. Denn für besonders viele Schmunzler sorgt so z.B. Greta sowohl im Heute, als auch schon in dem Strang aus der Vergangenheit mit Szenen wie, wenn sie nachdem Tom das Auto sicher verwahrt hat, einfach mal kurz shoppen geht, „Greta bleibt vor dem roten Cabriolet stehen und streift fast zärtlich über den glänzenden Lack. »Ich will etwas Flottes haben. Nicht so eine Omakarre!«, als Jugendliche noch so unbedarft ist, »Wie, was soll mit Küssen sein?«, fragte Fine langsam. »Denkst du, man wird vom Küssen schwanger?« »Etwa nicht?«, oder mit viel Schalk im Nacken Bob, dem GI nicht nur Deutsch, sondern auch Dialekt beibringen will, »Perfekt! Sag mal: Donnerlittchen.« »Donnerlitschen. What does it mean?« »Das sagt man so. Donnerlitchen, da hast du aber wieder was angestellt. Oder: Donnerlittchen, du hast vielleicht lange Zähne.« Greta schaute bierernst in das fragende Gesicht. »Oder sag mal Hupfdohle.«

Gekonnt schlägt Susanne Abel den Bogen zwischen Heute und Vergangenheit. Es finden sich nicht nur Dinge wie z.B. eine alter Singer Nähmaschine oder ein Püppchen, von denen erzählt wird, hier und dort, sondern auch die dunklen Seiten ähneln sich auf erschreckende Art und Weise und öffnen so ohne erhobenen Zeigefinger, aber besonders eindringlich, die Augen dafür, dass wir viel zu wenig aus der Geschichte gelernt haben. Denn da interviewt Tom „die Direktorin des Krisenreaktionsteams von Amnesty International. »Frau Hassan, Sie berichten darüber, wie Geflüchtete und Migrantinnen auf der Flucht in großer Gefahr sind, Opfer von Gewalt zu werden.« »Nachdem sie die Schrecken des Krieges im Irak oder in Syrien durchlebt haben, haben diese Frauen alles aufs Spiel gesetzt, um ihre Kinder und sich selbst in Sicherheit zu bringen«, antwortet Tirana Hassan. »Doch auf der Flucht erleben sie abermals Gewalt und Ausbeutung und erhalten kaum Unterstützung oder Schutz.«, oder auch solche Stimmen, »Warum protestieren Sie hier gegen die Unterbringung von Kriegsflüchtlingen?«, fragt Tom von jenseits des Gitters in die Menge. »Ach, Kriegsflüchtlinge. Das sind doch keine Kriegsflüchtlinge«, antwortet ein Mittsechziger, der nicht einmal seinem Gürtel traut und deshalb die dreiviertellange stützstrumpffarbene Cargohose zusätzlich mit Hosenträgern vor dem Rutschen sichert. »Die jungen Kerle sind alle Schmarotzer. Ich möchte betonen, ich bin kein Nazi, aber Schmarotzer sind das!« obwohl gilt, »Wenn ihr wüsstet, was wir alles mitgemacht haben« und sich tatsächlich wiederholt, was in der Vergangenheit noch so hieß, »Mutter, Mutter, die Flüchtlinge sind da!« Greta stützte ihren Großvater auf dem Weg über den holprigen Hof zur Eingangstür. Sie hat auf der Flucht viele Schimpfwörter gehört. Polacke, Rucksackdeutsche, und jetzt kam ein weiteres hinzu: Flüchtlinge. Hasserfüllt und voller Verachtung ausgesprochen.“

Greta ist grandios dargestellt, nicht nur im Heute so absolut authentisch, und ich weiß was ein dementer Elternteil bedeutet, sondern auch nicht ohne den einnehmenden Schlack im Nacken, mit dem man sie in der Vergangenheit kennen und schätzen lernt. War mir Tom anfangs mit seinem egoistischen, fast schon selbstverliebten Verhalten fast schon unsympathisch, konnte er mich nach und nach tatsächlich noch ein Stück weit für sich einnehmen, denn auch er hat kein ganz so einfaches Päckchen zu tragen. Gekonnt bunt, lebendig, realistisch und ein breites Spektrum unterschiedlicher Ansichten repräsentierend sind auch die ganzen anderen Mitspieler gezeichnet, beim dunkelhäutigen Bob, dem GI mit dem vielen Charme, angefangen, über Oma Guste, die schon wusste, wie sie einer Greta die falsche Begeisterung austreiben kann, »Was macht ihr hier?«, fragte sie außer Atem. »Adolf Hitler spielen!«, antworteten die Kinder im Chor. »Hier, damit du auf vernünftige Gedanken kommst. Schneid Klopapier zurecht.« , bis hin zu kleinsten Rollen, wie die des verhärmten Kriegsheimkehrers Otto oder auch Prof. Dr. Hermann Holloch, der trotz medizinischer Versuche auch nach dem Krieg wieder ein Schlupfloch findet.

Richtig gute historische Roman sind für mich immer die, bei denen viel an die Realität angelehnt ist, und das ist hier der Fall, wie man auch im Nachwort konkret erfährt. Die Autorin hat wirklich grandios bis in viele kleine Details recherchiert. Ein weiteres Kriterium neben dem sprachlichen Können, diese Geschichte lebendig zu machen, was absolut der Fall ist, ist auch die Tatsache, dass ich Neues dazu lernen kann. So habe ich z.B. bisher noch nie vom Brown Baby Plan gehört und habe jetzt ein Bild davon bekommen, wie abgrundtief schrecklich der Rassismus tatsächlich nur so kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges weitertoben konnte.

Es gäbe noch so, so viel an diesem Roman zu loben, ich könnte noch seitenlang weitermachen, aber jetzt nur noch so viel, FAZIT: UNBEDINGT LESEN, denn ich hätte wirklich etwas Großes verpasst.