Sprachgewaltiger Schuss mitten ins Tinten-Schwarze

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ron_robert_rosenberg Avatar

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Eines vorweg: Für mich steht fest, dass dieser „Tell“ von Joachim B. Schmidt Schullektüre werden sollte. Welch ein genialer Einfall, eine geschichtsträchtige Sage in eine spannungsgeladene Story zu verpacken, ohne verstaubt oder belehrend zu wirken. Und dann die Sprache! Die zahlreichen wechselnden Figuren, an deren Gedanken der Leser perspektivisch teilnimmt, führen einen direkt in die grausame Welt des Spätmittelalters hinein, in die Gräueltaten der Habsburger und den Überlebensinstinkten der verarmten Bewohner in den Schweizer Kantonen. Ein brutales und zugleich rasantes Schauspiel.
Worum geht es? Die Sage rund um Wilhelm Tell ist der Kern des Romans, ein Freiheitskämpfer und Vorreiter der Eidgenossen. Und natürlich spielt auch der Apfelschuss vom Kopf des Sohnes eine Rolle, den wohl jeder kennt. Im Mittelpunkt stehen aber ganz andere: die einfachen Bergbauern, die um ihr karges Dasein bangen müssen und um ihre Kinder, dass sie den nächsten Winter überstehen. Ebenso die Dorfbevölkerung, die von den marodierenden Soldaten des Königs gequält und ausgenutzt werden, befehligt von einem schwächlichen, aber bürgerlich gebildeten Landvogt namens Gessler. Somit ist es Wilhelms tragische Rolle, eingebettet in eine glaubwürdige und komplexere Familiengeschichte, die die gesellschaftspolitische Dimension dieser Geschichte auf noch ganz andere Ebenen hebt. Es geht um Liebe, Verrat, Schuld und Treue sowie um alle anderen großen Gefühle bis hin zum Todessehnen. Die Tragödie im Leben dieser Geschundenen macht auch nicht Halt vor Missbrauch von Klerikern, Zweckehen, Depressionen, Generationenkonflikte, Hunger und Kindersterblichkeit. Dabei gelingt es Schmidt, dem aus der Schweiz nach Island ausgewanderten Autor, mit sprachlicher Kunstfertigkeit die Idiome längst vergangener Zeiten wiederzubeleben und dem Leser diese Welt wieder authentisch vor den Augen entstehen zu lassen. Er destilliert seine Wortschöpfung auf das Mindeste. Ein wahres Meisterwerk. Ich bin mir sicher, dass es das Potenzial für einen modernen Klassiker hat.
Gerne würde ich mehr solcher Bücher lesen. Ich könnte mir gut vorstellen, dass dieses Konzept auch auf andere Sagen übertragbar wäre, z. B. auf den Rattenfänger von Hameln, Störtebecker oder Eulenspiegel. Ach ja, der Till. Den Roman „Tyll“ schrieb bereits Daniel Kehlmann 2017, ein bunter Bilderreigen während des Dreißigjährigen Krieges. Jedoch lege ich mich fest: Joachim B. Schmidt ist mit Tell eine um Längen bessere und äußerst originelle Adaption eines leicht verstaubten Abenteuerstücks gelungen. Ein Thriller statt Heimatkunde.