Eine Vater-Tochter-Beziehung im Transitraum

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„Wo genau verläuft die Grenze zwischen Nichtankommen und Nichtwegkönnen?“ (S.245).

Was vermag eine Tochter wirklich über ihren Vater zu wissen, wenn sie nur in den ersten Jahren ihres Lebens mit ihm aufgewachsen ist? Einen Vater, den sie vor fünf Jahren das letzte Mal gesehen hat? Wie zuverlässig sind ihre Erinnerungen an ihn? Warum hat er sie und ihre Mutter verlassen, ist in sein Herkunftsland zurückgekehrt, zu dem er zwiegespaltene Gefühle hegt? Welche Geheimnisse hält er vor ihr verborgen? Welche Träume und Wünsche hat er, die er niemandem offenbart? Wer ist dieser Mann, der sich Vater nennt? Wie lebt er in der Gegenwart, in einem zerrütteten Land, und wie hat seine Vergangenheit ihn geprägt? Interessiert dieser Vater sich wirklich für mich? Will er wissen, wer ich bin? Was muss ich ihm verschweigen? Wo muss auch ich einen Filter hinterlegen?

Diese Fragen stehen mitunter im Zentrum von Nilufar Karkhiran Khozanis autobiografischem Debütroman "Terafik". Was Nilufar unter anderem weiß: ihr Vater heißt Khosrow, lebt in dritter Ehe, wurde 1956 im iranischen Abadan geboren und ist 1979 aus politischen Gründen nach Deutschland geflohen. In Deutschland engagierte er sich im Exiliraner-Komitee und der SPD, war Fußballtrainer, studierte Elektrotechnik an der FH Gießen-Friedberg, arbeitete bei Siemens, doch eine langfristige und erfolgreiche Karriere als Ingenieur blieb ihm verwehrt. Nach seiner Rückkehr absolvierte er mit Ende 50 den Exzellenz-Masterstudiengang „Deutsche Politik und Wirtschaft“ an der Universität Teheran, ist Promotionsstudent und wird aufgrund seines Alters doch niemals als Professor tätig sein können. Ein Mann mit Hoffnungen und geplatzten Träumen; ein Vater, der für die eigene Tochter in Fragmenten doch auch irgendwie ein Rätsel bleibt. 2016 erhält Nilufar eine Einladung von Khosrow, ihn in Teheran zu besuchen. Zögerlich nimmt sie an und reist in das ihr bislang unbekannte Herkunftsland ihres Vaters.

In ihrem Roman nimmt die Autorin ihre Leser*innen mit auf eine literarische Reise durch verschiedene Zeitebenen und Orte: Gießen 1989, Berlin 2016, Teheran 2016, Frankfurt 1981, Berlin 2011. Zahlreiche Namen von Familienmitgliedern werden bereits zu Beginn in die Erzählung eingeflochten und spiegeln die Komplexität der Familie. Diese Erzählperspektive war insbesondere zu Beginn nicht einfach zu durchdringen, doch mit der Ankunft von Nilufar in Teheran wurde bei mir gewissermaßen ein Schalter umgelegt, und ich war im Lesefluss.

Der Roman taucht tief in die inneren Konflikte und Gedanken von Nilufar ein, die sich in ihren Reflexionen über ihre Identität und die Suche nach Zugehörigkeit manifestieren. „Terafik“ bietet äußerst intime Einblicke in die innere Zerrissenheit, die Nilufars Leben prägt/en. Zwischen Zuneigung und Entfremdung zu ihrem Vater, oszillierend zwischen Sprachlosigkeit und Verständnis auch gegenüber den anderen Familienmitgliedern, zeichnet die Autorin außerdem mit einem oftmals sehr lyrischen Ton ein atmosphärisches, facettenreiches Bild des Irans und dort lebender Menschen. Sie beleuchtet und verweist auf Traditionen, kulturelle Gepflogenheiten, eine unermessliche Gastfreundschaft, die Unterdrückung von Frauen, das Fortbestehen patriarchalischer Strukturen, Menschenrechtsverletzungen, religiösen Fanatismus, die komplexen politischen Spannungen, die Herausforderung der Selbstbestimmung und der Loslösung von der eigenen Sozialisation. Nilufar erlebt die typischen Phasen des „Kulturschocks“, fühlt sich zeitweise wie ein unmündiges Kind, deren Bewegungsradius eingeschränkt ist, und beweist gleichzeitig doch auch eine unglaubliche Anpassungsfähigkeit sowie die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel. Als Leser*in ist man sich dabei stets be-wusst, dass die Darstellung des Landes in seiner Komplexität nur jenen Ausschnitt zeigt und zeigen kann, der auch der Erzählerin von ihrer Familie gezeigt wurde. Zusätzlich verarbeitet die Autorin auch die Erfahrungen von Ressentiments, Diskriminierungen und bildungspolitische Ungerechtigkeiten, denen nicht nur ihr Vater, sondern auch sie selbst ausgesetzt war und ist. Somit ist „Terafik“ auch eine wichtige literarische Darstellung der Lebensrealität einer jungen Frau, welcher der schmerzhafte und abwertende Stempel „Ausländerkind“ anhaftet.

Letztendlich stiftet „Terafik“ außerdem Identifikationspotenzial für Menschen, die in binationalen und - kulturellen Beziehungen jeglicher Art leben oder gelebt haben und über entsprechende Er-fahrungswerte verfügen. Der Roman beleuchtet eingehend die Komplexität einer nicht konflikt-freien Vater-Tochter-Beziehung, die Suche nach den Wurzeln der eigenen Identität, den Mikrokosmos der eigenen Familie, ist eine Hommage an die eigene Großmutter, der Versuch eines Perspektivenwechsels und Annäherung sowie ein intensiver Bericht über das Innere eines mir weiterhin recht unbekannten vielschichtigen Landes. "Terafik" hat mich insbesondere ab der Hälfte des Bu-ches sehr für sich eingenommen und berührt. Eine Leseempfehlung!