Ohne Sherlock Holmes wäre es ein richtig gutes Buch geworden…

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caillean79 Avatar

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Warum nur hat die Autorin hier Sherlock Holmes thematisieren müssen? Was die Geschichte zunächst für mich interessant gemacht hat (als ich nur den Klappentext kannte), entpuppte sich für mich als größte Schwäche des Romans (der ansonsten gut geschrieben ist, finde ich!).

Im Nachhinein habe ich mir jetzt überlegt, wie es gewesen wäre, das Buch ohne Sherlock Holmes, dafür (statt seiner) mit einem Londoner Polizisten zu lesen – ich glaube, ich wäre recht begeistert gewesen. Sherlock ist halt ein großes „Erbe“. Seine Persönlichkeit einzufangen ist nicht einfach – am besten ist das aus meiner Sicht in den letzten Jahren Antony Horowitz in „Das Geheimnis des weißen Bandes“ gelungen. Annelie Wendeberg scheitert meiner Meinung nach daran. Man merkt zwar, dass sie versucht, ihn als unnahbar und nur seiner Arbeit zugetan darzustellen. Das aber wiederum passt ja nicht zu der sich anbahnenden Liebesgeschichte, die sie mit einflechten will. Also muss Sherlock „weicher“ werden, sich um Anna sorgen und sie als Frau in sein Herz lassen… Und das steht im krassen Gegensatz zu seiner Persönlichkeit und wirkt auf mich daher unglaubwürdig. Die Dialoge zwischen Anna und ihm fand ich manchmal recht weit „out of character“, manchmal auch einfach nur nicht scharf genug. Da fehlte dieser letzte Rest Raffinesse, mit dem er sich dem Leser als Genie offenbart. Auch die fehlende Distanz durch das recht schnell eingeführte Duzen zwischen Anna und Sherlock hat mich gestört - ich denke, dass entspricht nicht seinem Wesen.

Anna finde ich hingegen recht gut herausgearbeitet – eine Frau, die anpackt, die sich was traut (in einer Zeit, in der das nicht selbstverständlich oder gar gewollt ist) und die quasi im Alleingang im wahrsten Sinne des Wortes ihren Mann steht. Wie schon erwähnt – wenn ihr ein anderer Mann zur Seite gestellt worden wäre, einer, bei dem ich das Gefühl gehabt hätte, dass die Chemie besser stimmt, dann hätte ich das Buch sicherlich sehr ansprechend gefunden.

Denn der Fall an sich ist offenbar gut recherchiert, plausibel und verständlich dargestellt und trotz der historischen „Verpackung“ wahrscheinlich hochaktuell. Die Erforschung von Krankheitsbildern mit Hilfe menschlicher „Versuchskaninchen“ könnte genausogut Gegenstand eines Thrillers der Gegenwart sein. Mehr möchte ich aber hier über den Inhalt nicht verraten.

Insgesamt war ich (als Holmes-Kenner) enttäuscht von dem Buch. Ich denke aber, dass Holmes-Neulinge das Buch ziemlich gut finden würden. Insofern kann ich der einen Gruppe nur eine Nichtlese-, der anderen aber durchaus eine Lese-Empfehlung aussprechen. Für mich persönlich kommen wegen der massiven Schwächen in der Figur des Holmes – trotz des zugegebenermaßen sehr gelungenen Covers und meiner standortbedingten Sympathie für die sächsische Autorin – nicht mehr als 3 Sterne in Betracht.