Nell und der Junge im Wolfsmantel

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern
hennie Avatar

Von

In Nøy, einem kleinen, fiktiven Ort in Norwegen, lebt Nell mit ihrer krebskranken Schwester Harper und dem streng religiösen Vater. Gemeinsam waren sie aus England gekommen, da angeblich das Gesundheitswesen in dem skandinavischen Land besser sei. Die Mutter verließ die Familie vor längerer Zeit.
Eleanor Mary Lamb, wie Nell mit vollem Namen heißt, ist sehr musikalisch, komponiert und textet. Sie liest Brontës Sturmhöhe. Die 15jährige hat große Pläne. Sie möchte in der alten Heimat zum Rockstar werden und deshalb zurück. Sie will weg von der erdrückenden Verantwortung für ihre Schwester, weg von dem alkoholabhängigen, passiven Vater. Doch es kommt ganz anders. Ihr läuft Lukas, der attraktive, wilde Junge im Wolfsmantel, über den Weg. Und Ruckzuck hat er sie in kürzester Zeit mit seinem Aussehen, seinem Wesen verzaubert. Es ist die sprichwörtliche Liebe auf den ersten Blick! Dass mit ihm aber nicht alles nur wunderschön ist, merkt das junge Mädchen erst, als es so gut wie zu spät zu einer Umkehr ist. Lukas bringt sie dazu, einen kleinen Jungen zu entführen, mit ihm gemeinsam in die norwegischen Wälder zu fliehen. Erst nach und nach begreift Nell Zusammenhänge. Mit der Erkenntnis kommt die Angst, aber auch der unbändige Wille gegen alle Widrigkeiten zu kämpfen. Sie muss psychische und physische Entscheidungen treffen, die ihre Kräfte an Grenzen bringen.

Der Roman ist aus der Ich-Perspektive erzählt. Dadurch kommt man der Hauptperson, dem jungen Mädchen Nell, sehr nahe. Untergliedert in drei Teile (Teil 1: Liebe, Teil 2: Rettung, Teil 3: Opfer) erlebte ich über 49 Kapitel einen fesselnden, manchmal verwunderlich anmutenden Jugendroman mit fantasiebeladenen, teilweise grusligen Thrillerelementen. Der Sprachstil Lucy van Smits fasziniert mich. Die Sätze sind bildmalerisch, sie bedient sich vieler Metaphern. Das ließ sich sehr schön lesen.
Leider spoilert der Klappentext schon eine ganze Menge der Handlung im Vorfeld, nimmt einiges an Spannung weg. Ich erwartete ständig eine Wendung in der Geschichte.
Im Gegensatz zu vielen Rezensenten kann ich mir die intensive Verliebtheit Nells vorstellen. Lukas scheint trotz seiner Jugend schon ein recht smarter Verführer zu sein.
Sie kommt mir überhaupt nicht naiv vor. Man bedenke, was das Mädchen alles aufgegeben hat und was sie tagtäglich in ihrem jungen Alter zu bewältigen hat. Sie möchte dem allen allzu gern entfliehen und nutzt deshalb ihre vermeintliche Chance. Auch ihr verzweifelter Kampf, sich diese tiefe Liebe wieder aus Herz und Kopf zu bannen, fand ich von der Autorin glaubhaft und altersgerecht dargestellt.
Ihr gelang es nicht nur überzeugende Charaktere agieren zu lassen, sondern sie ließ auch eine wunderbare, wilde, raue Natur vor meinen Augen entstehen. Die Fjorde. Der Preikestolen. Die Wildnis. Die Wölfe...
Es ist eine Geschichte voller Emotionalität, mit zum Zerreißen spannenden Momenten, die mir allerdings ab und zu ein bißchen zu überdreht, zu dramatisch waren. Doch ich bin weit jenseits der Zielgruppe, also nicht wirklich der Maßstab. Auch Parallelen zu Brontës Sturmhöhe konnte ich nicht ziehen, da das Buch mir nicht mehr gegenwärtig ist. Vielleicht ein Grund, es wieder zu lesen!

Ich werde dieses Buch meiner 15jährigen Enkelin schenken, die hoffentlich mit der Lektüre etwas anfangen kann.
Ich meine, dass Lucy van Smit ein tolles Jugendbuch gelungen ist, das durchaus auch Erwachsenen Vergnügen bereiten kann.

Deshalb gibt es von mir die Höchstbewertung!