Zwiespältiges Urteil

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marcello Avatar

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Bei einer neuen Autorin, bei einem sehr schlichten Cover und bei einem knappen Klappentext, da muss man schon sehr viel Mut haben, um zur Lektüre zu greifen. Bei mir war es schließlich die Leseprobe, die mich zu dem Buch hat greifen lassen, da dieses Großstadtmädchen in der rauen Natur von Norwegen es mir einfach angetan hatte. Dennoch bin ich eher mit sehr geringen Erwartungen an die Lektüre rangegangen, denn bei diesen Vorabinformationen hätte „The Hurting“ wirklich alles sein können.

Was mir sehr früh aufgefallen, ist, dass das Jugendbuch einen Stil hat, den man bei vielen „anspruchsvolleren“ Jugendbüchern dieser Zeit immer wieder entdeckt. Es gibt teilweise eine fast schon poetische Sprache, die gepaart mit den Beschreibungen von Norwegens Naturschauspiel träumen lässt und dann wiederum ist die Sprache zwischendurch regelrecht plump. Diese Ambivalenz der Stile will mich einfach nicht so abholen, wie es vermutlich intendiert ist und das ist schade, weil man gerade durch die sprachgewaltigen Passagen merkt, dass van Smit schreiben kann, dies aber aus welchen Gründen auch immer stellenweise nicht nutzt.

Bei den Figuren ist es so, dass wir Zeuge einer kaputten Familie werden, was es natürlich automatisch erschwert, sich mich den einzelnen Figuren identifizieren zu können. Nells ältere Schwester Harper trägt mit ihrer Krebserkrankung ohne Frage ein hartes Schicksal und trotzdem wird sie zu 90% des Buchs so boshaft und neidisch dargestellt, dass ich sie am liebsten aus den Seiten gerissen hätte. Mit dem Vater verhält es sich nicht groß anders, nur dass er eher unbeteiligt und ängstlich ist und nur mit dem höchsten Alkoholpegel zu Gewaltausbrüchen neigt. In dieser dysfunktionalen Familie fällt es natürlich schwer, Nell durchweg positiv zu sehen, da sie sich in diesem Teufelskreis auch eingenistet hat. Zudem kommt auch noch ihre blinde Liebe zu Lukas hinzu. Man hat schnell gemerkt, natürlich auch weil wir seine Perspektive immer mal kurz präsentiert bekommen, dass er auch genug Probleme mit sich herumschleppt und zuweilen borniert nur nach vorne sieht.

In dieser negativen Umgebung war ich dann doch überrascht, wie sehr Nell mir noch ans Herz wachsen konnte. Zwar gab es auch am schlimmsten Punkt für sie immer noch Momente, wo ich sie gerne geschüttelt hätte, aber gleichzeitig war sie so mutig, weitsichtig, ausdauernd und empathisch, dass ich nur mit ihr mitfiebern konnte. Da auch die traurige Familiengeschichte irgendwann offenbart wird, bekommt man schließlich auch ein Verständnis für die einzelnen Figuren, aber dennoch ist damit nicht alles verziehen. Daher fand ich es auch gut, dass es kein klassisches Happy End gab. Es gab eines, das Hoffnung gibt, aber nicht mehr und nicht weniger. Richtig stark war definitiv auch, dass sich dieses Jugendbuch noch zu einem Thriller entwickelt hat, denn der Schreibstil, der mich durchweg gestört hat, wäre bei einer langatmigen Erzählung nur noch zur Qual geworden.

Zwar wurde das Buch zum Ende hin immer stärker und spannender und dennoch bleibt der Knackpunkt der Erzählung neben dem Stil bei der Figur Lukas. Er war alleine durch seine Kindheit schon eine höchst faszinierende Figur, aber durch die kleinen Perspektiveinblicke bei ihm gab es dennoch keine Chance, ihn als Figur richtig greifen zu können. Vielleicht hätte es geholfen, sein Aufwachsen bei den Wölfen intensiver zu beleuchten. Aber so konnte ich ihm zu keinem Augenblick, seine angebliche Liebe zu Nell abkaufen. Daher konnte ich auch seine ständigen Umentscheidungen nicht nachvollziehen und die haben doch auch einen entscheidenden Teil der Geschichte ausgemacht. Der Fokus war zu sehr auf Nell, aber die Geschichte war eigentlich die von Lukas und ihr.

Fazit: Das Jugendbuch bietet eine atmosphärisch tolle Szenerie, eine tolle Thrillerspannung im letzten Drittel und eine Protagonistin, die einem irgendwann unweigerlich ans Herz wächst. Aber auf der anderen Seite haben wir einen Schreibstil, der sich sehr gegensätzlich gestaltet und daher den Leseprozess teilweise zäh gestaltet. Zudem sind die restlichen Charaktere alle keine, die man bedingungslos ins Herz schließt, weil sie insgesamt viel zu wenig ausgearbeitet sind. Daher bleibt für mich ein sehr zwiespältiges Bild, bei dem ich keine klare Leseempfehlung geben kann.