Die langen Schatten

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buecherfan.wit Avatar

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In “Töchter des Schweigens” erzählt Elia Barceló die Geschichte von sieben Freundinnen - Margarita, Ana, Magdalena, Teresa, Carmen, Candela und Soledad -, die sich zum ersten Mal nach langer Zeit fast vollzählig wiedersehen. Nach 33 Jahren kommt die bekannte Filmemacherin Rita in Begleitung ihrer Managerin und Freundin Ingrid zum ersten Mal in ihren Heimatort Elda zurück. Bis auf Rita und Soledad, die Diplomatengattin, sind die anderen nach und nach wieder an den Ort ihrer Kindheit zurückgekehrt. Durch Ritas Rückkehr werden sie wieder mit einem lang verdrängten
Ereignis aus ihrer Vergangenheit konfrontiert. Bei ihrer Abschlussfahrt nach Mallorca im Sommer 1974 ist etwas Schlimmes passiert, das die Zeit in ein Davor und ein Danach teilt und ihr ganzes weiteres Leben überschattet hat. Sie haben nie mehr darüber gesprochen, aber es hat alles verändert. Sie haben ihre beruflichen Pläne geändert, ja zum Teil sogar ihre Namen: aus Marga wurde Rita, aus Magda Lena, aus Tere Teresa usw., als ob sie damit symbolisch verdeutlichen wollten, dass ihr altes Leben zu Ende war. Als Lena Rita nach dem ersten Treffen zu sich einlädt, um ihr endlich etwas zu erzählen, was sie ein Leben lang belastet hat, spricht sie ihr eigenes Todesurteil aus. Rita findet sie tot in der Badewanne. Für kurze Zeit sieht es nach Selbstmord aus, aber schon bald ermittelt die Polizei und verdächtigt Rita. Der Leser nimmt Teil an der langwierigen Suche nach der komplexen Wahrheit.

Erzählt wird auf zwei Zeitebenen: 1974 und 2007. Der Leser lernt die jungen Mädchen und ihren familiären Kontext kennen, hört von ihren Träumen und Plänen für die Zukunft. Alle brennen darauf, die Enge der Kleinstadt zu verlassen, um in Valencia zu studieren. endlich frei zu sein, aber das Leben, das sie sich erträumt hatten, ist zu Ende, noch bevor es begonnen hat. Sie haben in Mati eine skrupellose, gefährliche Mitschülerin, die sie pausenlos bespitzelt und mit ihrem Wissen erpresst, denn sie haben alle ihre Geheimnisse, von denen niemand erfahren darf. Nach einem Drittel des Romans glaubt der Leser ungefähr zu wissen, was bei der Abschlussfahrt passiert ist, kennt aber weder die näheren Umstände noch den / die Täter. Erst auf den letzten Seiten des Romans sind alle Geheimnisse gelüftet, teilweise erst in einem Epilog für den Leser, ohne dass die überlebenden Personen des Romans diese Details erfahren.

Die Autorin macht es dem Leser nicht leicht. Er muss die Schicksale einer Vielzahl von Personen verfolgen, die auf zwei Zeitebenen und mit zusätzlichen Rückblenden erzählte Geschichte in den richtigen Zusammenhang bringen - teilweise geht die Autorin mit Einschüben und dem von Candela hinterlassenen Romanfragment nochmals hinter bereits erzählte Zeitabschnitte zurück - und sich an den extravaganten Zeitengebrauch gewöhnen. Immer wieder werden Passagen, vor allem die mit 1974 überschriebenen Kapitel, aber auch Abschnitte aus 2007 im historischen Präsens erzählt. Die Erzählung bekommt dadurch eine große Unmittelbarkeit, so dass vor allem die Vergangenheit (1974) fast gegenwärtiger wirkt als die Erzählgegenwart von 2007.

Breiten Raum nimmt die Darstellung des politischen und gesellschaftlichen Klimas von 1974 ein. Es ist das Ende der Franco-Ära, knapp eineinhalb Jahre vor dem Tod des Diktators im November 1975. Die Diktatur besteht noch und damit das Klima der Unterdrückung, die Dominanz der katholischen Kirche, die antiquierten Moralvorstellungen und die Guardia Civil, Francos Polizei, die es nicht ratsam erscheinen ließ, abweichende Ansichten in Demonstrationen zur Schau zu stellen. Dieser zeitgenössische Hintergrund ist deshalb so wichtig, weil er verdeutlicht, warum die Erpresserin Mati für die Mädchen so gefährlich war. Dinge wie sexueller Missbrauch, häusliche Gewalt, ungewollte Schwangerschaft, Abtreibung, Ehebruch, usw. durften einfach nicht nach außen dringen. Wenn sie bekannt wurden, bedeutete dies den Bruch mit der Familie, gesellschaftliche Ächtung, das Karriereende noch vor ihrem Beginn und nicht zuletzt eine mehrjährige Gefängnisstrafe im Fall einer Abtreibung.

Elia Barceló ist ein trotz einiger Längen sehr empfehlenswerter Roman über eine Epoche und über lebenslange Freundschaft, Liebe, Schuld und Verdrängung gelungen. Wenn der Roman noch ein Motto außer dem vorangestellten englischen Sprichwort “Old sins cast long shadows” - Alte Sünden werfen lange Schatten - brauchte, dann könnte es der zuerst von William Faulkner formulierte Satz sein: “Das Vergangene ist nicht tot, es ist nicht einmal vergangen.”