Wenn die Hoffnung das Überleben sichert

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern
elke seifried Avatar

Von

Die Tage in denen die 11-jährige Anna mit ihrer Tante Marie und ihrem Onkel Matthias, trotz des tobenden Zweiten Weltkriegs ein relativ behütetes Leben in der eigenen volkswichtigen Bäckerei führen darf, sind vorbei als es für Matthias, der die Flucht der befreundeten jüdischen Familie, von der er die Bäckerei rechtmäßig gekauft hat, nicht angezeigt und er deshalb im Jahr 1941 den Einberufungsbefehl bekommt. Nicht nur müssen Anna und ihre Tante jetzt ohne Matthias über die Runden kommen, sondern auch die Bombenangriffe auf Köln nehmen in erschreckendem Maße zu. Und so heißt es am Ende des Kriegs „Das Haus, einst hellgrün gestrichen, war vollkommen schwarz. Die oberen Stockwerke fehlten, die Wohnung […] weggesprengt. Vom ersten Stock, […] standen nur noch die Außenmauern. Alle Scheiben im Laden waren zersprungen, die schöne alte Tür mit dem bunten Glas war in den Verkaufsraum geflogen, der Tresen und die Regale waren zerstört und mit Glassplittern übersät.“. Werden die beiden Frauen das Versprechen, das sie Matthias beim Abschied gegeben haben,. »Passt auf euch auf. Gebt den Menschen Brot. Haltet die Bäckerei am Laufen, damit niemand Hunger leiden muss. Bewahrt mir die Bäckerei! Seid tapfer und habt keine Angst, hört ihr, habt keine Angst!« halten können und werden sie am Ende alle wieder glücklich vereint sein?

Als Leser lernt man die Familie vom Krieg noch verschont kurz kennen, erlebt dann den schmerzlichen Abschied und anschließend mit Anna und Marie die schrecklichen Kriegsjahre, teilweise bibbernd vor Angst im Bunker. Hat man dann gemeint mit dem Kriegsende sind die schlimmsten Zeiten vorbei, muss man sich mit den beiden anschließend jedoch hungriger denn je nicht nur durch den bitter kalten Jahrhundertwinter 1946/47, sondern auch mit aller Macht um die Bäckerei kämpfen. Ein Geheimnis, das Matthias Anna beim Abschied anvertraut hat, schafft zudem Spannung und auch Liebeleien, die eigentlich nicht sein dürfen, bereichern die Erzählung.

»Phosphorbomben?«, hatte sie ungläubig gefragt. »Was soll das sein?« »Schreckliche Dinger«, hatte die alte Dame geantwortet, die gerade an der Reihe gewesen war. »Die Menschen verbrennen, und niemand kann sie retten. Sie schrumpfen in der Hitze, bis sie nur noch so groß sind wie kleine Kinder. Einen halben Meter vielleicht.«, von den Schrecken des Krieges erfahren, „Zumindest erkannte Marie sofort, was der alte Besenstiel darstellen sollte, der senkrecht an einen Bettpfosten gebunden war. Jemand hatte kleine Kerben hineingeritzt und in diese Kerben dünne, kahle Zweige gesteckt, an denen echte Strohsterne hingen! Das Stroh war zerfasert und schmutzig, die Kinder hatten es offenbar von der Straße“, Weihnachten der besonders kläglichen Art miterleben, oder auch von „Das also waren die berühmten Autospringer, von denen ganz Köln hinter vorgehaltener Hand sprach. Die die Transporter der Besatzer überfielen, indem sie sich tollkühn von Brücken und Unterführungen hinabstürzten.“, oder auch »Plünderer«, flüsterte Marie mit ersterbender Stimme. Anna lief es eiskalt den Rücken herunter. Bislang hatte sie nur Schreckgeschichten gehört von den Horden, die nachts die Menschen in ihren armseligen Behausungen überfielen.“, erfahren, mit der Familie die schwere Zeit miterleben, das kann man in diesem fesselnden historischen Roman ganz vorzüglich, sodass sich „Trümmermädchen“ sicher zu den besonders gelungenen zählen darf.

Der lockere, einnehmende Sprachstil der Autorin liest sich super flüssig. Sie beschreibt mit vielen Bildern, sodass man als Leser das Gefühl hat, selbst in der Geschichte mitspielen zu dürfen, mit dabei zu sein. Ich hatte beim Lesen nicht selten den Duft von frisch gebackenem Brot in der Nase, habe mit allen gezittert, wenn die Bunkerwände einstürzen oder konnte die Kälte an den Zehen und Füßen fast selbst spüren. „Meine Mutter hat den Hungerwinter 1946/ 47 als Kind erlebt, ihre Erinnerungen haben sich tief in unser familiäres Gedächtnis gegraben. Mein Opa gilt bis auf den heutigen Tag als in Russland vermisst. Meine Oma baute ihre vollkommen zerstörte Bäckerei ganz allein wieder auf, Stein auf Stein.“, schreibt die Autorin im Anhang und ich denke die Tatsache, dass die Geschichte in Grundzügen ihrer Familiengeschichte ähnelt, sie dadurch auch auf zahlreiche Zeitzeugen zurückgreifen konnte und sie selbst mit dem Geruch frischer Backwaren in der Nase großgeworden ist, lässt den Roman noch viel empathischer werden. Man spürt als Leser deutlich, mit welcher Leidenschaft Lilly Bernstein hier erzählt. Nicht selten habe ich betroffen gelesen, so richtig mitgelitten. So hatte ich z.B. fast Tränen in den Augen, als die hochschwangere Marie im Bunker verschüttet wird, konnte Achterbahn der Gefühle fahren, wenn alle aus Hunger schon fast ohnmächtig werden und man dann mit Anna voller Vorfreude vom Schwarzmarkt kommt und es dann statt Pflanzenfett heißt, »Mit Schmieröl«, antwortete Marie. »Liebes, wofür brauchen wir das?« Ungläubig starrte Anna auf die Dose. Ihr war, als bräche die Welt um sie herum zusammen. Sie hätte schreien mögen vor Wut. Schmieröl! Die alte Frau hatte sie betrogen! Und dafür hatte Anna acht kostbare Zigaretten hergegeben!“ oder habe einen tiefen Stich im Herz verspürt, wenn der ekelhafte Bäcker Brüll Anna in die Mehlkammer zerrt.

Die hilfsbereite, mutige, verantwortungsvolle Anna ist mir sofort ans Herz gewachsen und ich habe die Geschichte mit dem Mädchen, das durch den Krieg viel zu schnell erwachsen werden muss, gelebt. Mit ihr habe ich sicher am meisten gefiebert, auch wenn ich mich in eine Marie, der Anna und auch Söhnchen Karl über alles gehen, stets sehr gut hineinversetzen konnte. Richtig lebendig, authentisch und detailliert zeichnet die Autorin auch alle ihre anderen Mitspieler, bei Joseph, dem polnischen Zwangsarbeiter, der aus Dankbarkeit und Verbundenheit über sich selbst hinauswächst, angefangen, über einen Dean, der sich so sehr um die Liebe einer Marie bemüht, bis hin zu einer Hilde, der mutigen Anführerin einer Bande elternloser Kinder, die alle über die Runden bringen und vor einem Heim bewahren will.

Alles in allem ein emotionaler, fesselnder Kriegs- bzw. Nachkriegsroman, der gelungen ins Köln der Jahre 1941 bis 1948 entführt und sowohl die schlechten Lebensbedingungen erschreckend authentisch miterleben, als auch die nie sterbende Hoffnung der einnehmenden Charaktere fühlen lässt. Das kann nur begeisterte fünf Sterne und eine Leseempfehlung geben.