Die brüllende Stille nach dem Sturm

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ismaela Avatar

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Dieses Buch konnte ich nicht zu Hause lesen.
Es klingt seltsam, aber diese Geschichte musste ich in einem neutralen Raum lesen, mit dem ich persönlich nichts verbinde – hier also: die S-Bahn auf dem Weg zur Arbeit und wieder nach Hause. Der Grund ist einfach: der Aufbau des Buches – die „oral History“ – bestehend aus kurzen Sätzen und Telefonmitschnitten, vermitteln den Eindruck als wäre man live vor Ort, als wäre man tatsächlich genau in diesem Moment in einem der entführten Flugzeuge. In einem der beiden Türme des World Trade Centers. In einem der Polizei-, Feuerwehr- oder Rettungswagen. Im Pentagon, über Shanksville. Oder in einem der zahllosen Häuser, in denen die Nachricht vom Tod eines Ehepartners oder der Ehepartnerin, von Familienmitgliedern, die in den Trümmern der attackierten Gebäude und der entführten Flugzeuge umgekommen sind, einbricht wie ein entsetzlicher Albtraum. Eine unpersönliche Umgebung nimmt dem Ganzen zumindest ein kleines bisschen den Schrecken.

Garrett M. Graff hat in seinem Buch ein paar der unzähligen Stimmen derer versammelt, die am 11. September 2001 vor Ort waren und die Anschläge auf die Türme des World Trade Center, dem Pentagon und dem Capitol (das nicht getroffen wurde) miterleben mussten oder sonst in irgendeiner Weise damit verbunden waren. Er verzichtet hierbei ganz bewusst auf lange Texte oder Analysen, nur ab und zu gibt es kurze Erklärungen, damit man die folgenden Zitate besser einordnen kann. Aber im Grunde besteht das ganze Buch aus Eindrücken und Sätzen und letzten Nachrichten von Menschen, über denen an diesem Tag die Anschläge hereinbrachen. Dass jedem Satz der jeweilige Sprecher bzw. die jeweilige Sprecherin vorangestellt ist, ist auf Dauer etwas ermüdend zu lesen, vor allem dann, wenn man sich fragt „Wer war das nochmal…?“. Aber es tut der Geschichte keinen Abbruch, wenn man die Namen einfach ganz weglässt und nur die Eindrücke auf sich wirken lässt. Beeindruckt hat mich auch die Zeitspannen: man liest und liest und es ist aber immer noch Vormittag – und unwillkürlich denkt man sich: wann hört dieser Albtraum denn nun endlich auf? Und die Antwort ist: gar nicht.

Zwei Dinge haben mich während dieser Geschichte beschäftigt: die Wut auf die Attentäter, die aus einem religiösen Wahn heraus die Vernichtung tausender Menschen bewusst gewollt und herbeigeführt haben und bei denen man sich fragt: was muss einem Menschen passieren, dass er so degeneriert? Dann aber auch auf die Wut auf die führende Klasse der USA: solche Anschläge passieren nicht einfach aus dem Nichts heraus. Gerade durch die extrem hegemoniale Aussenpolitik der USA und ihr destruktives Werkeln in anderen Nationen haben sich über Jahre und Jahrzehnte Wut und Hass aufgestaut, die irgendwann ein Ventil brauchten. Es gibt eine Stelle in diesem Buch, an der ein Schüler, nachdem die Klasse die Anschläge in den Nachrichten gesehen hat, seine Lehrerin fragt, warum diese Menschen so etwas getan haben. Die Lehrerin sagt daraufhin: „Diese Leute mögen uns nicht besonders.“ Und der Schüler fragt: „Warum nicht?“ Dieser Dialog bleibt so stehen, aber in ihm spiegelt sich meiner Meinung nach das ganze Drama, das an diesem Tag passiert ist.

Absolute Leseempfehlung!