Ein Buch, das unter die Haut geht

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lilly_molamola Avatar

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Wohl jeder, der alt genug ist, kann sich daran erinnern, was er an 9/11 getan hat: Ich war sieben Jahre alt und kam gerade von der Schule nach Hause, als bei uns daheim der Fernseher lief und die Zwillingstürme in sich zusammen stürzten. Ich habe noch genau das Bild vor Augen, wie meine Mama sich vor lauter Schock und Fassungslosigkeit die Hand vor den Mund legte und mit großen Augen das Geschehen auf dem Bildschirm verfolgte.
Garrett M. Graff hat ein unfassbares und wichtiges Werk geschaffen: Er lässt den wohl schrecklichsten Tag der amerikanischen Geschichte noch einmal lebendig werden aus der Sicht hunderter Augenzeugen, Angehöriger, Rettungskräften, MitarbeiterInnen der Flughäfen, aber auch diverser politischer Amtsträger und der engsten MitarbeiterInnen des damals amtierenden Präsidenten George W. Bush.

Perfekte Mischung aus Informationen und subjektiven Erlebnissen
Das Buch erzählt nur einen einzigen Tag: den 11. September 2001. Dabei beginnt Graff immer mit einem informativen Paragraphen mit allen wichtigen Informationen und listet dann quasi die Erinnerungen und Aussagen der Leute. So interessant all diese Wahrnehmungen sind und fesseln, so schwer ist, sich all diese Namen und Berufsbezeichnungen zu merken, so dass ich irgendwann dazu übergegangen bin, nur noch die Namen zu lesen. Graff geht aber nicht nur auf die Anschläge in New York ein, sondern auch auf die beiden anderen Flugzeugabstürze im Pentagon und in Shanksville.

„Die Glücklichen unter den Unglücklichen“
Unter Tränen habe ich die Kapitel gelesen, in denen von den letzten Anrufen der Passagiere der entführten Flugzeuge erzählt wird und wie deren Angehörigen diese letzten Sekunden wahrgenommen haben. Diese Momente kann man sich nicht vorstellen, wenn man es nicht selbst erlebt hat. Wie reagiert man in einer solchen Situation, wenn man weiß, dass es das letzte Gespräch sein wird und man wenige Minuten später stirbt? Berührt hat mich da besonders die Aussage einer jungen Ehefrau: „Wir waren die Glücklichen unter den Unglücklichen, weil wir diese letzten Worte haben.“
2018 habe ich das 9/11 Museum in New York besucht, wo u. a. diese letzten Anrufe in Dauerschleife abgespielt werden. Ich habe die ganze Zeit geweint und musste irgendwann gehen, weil ich es nicht mehr ausgehalten habe, dieses ganze sinnlose Leid und die Verzweiflung. Dieses Buch ist also nichts für schwache Nerven und zart besaitete Seelen.

Hoffen weit über alle Hoffnung
Bewegend sind auch die zig Aussagen der unzähligen Rettungskräfte, die sich in die brennenden und einsturzgefährdenden Twin Towers aufmachten, um nach Verletzten und Überlebenden zu suchen und so viele Menschen wie möglich noch zu retten. Unterwegs erfuhren sie immer wieder von verunglückten oder abgängigen Kollegen, trotzdem ließen sie sich nicht beirren in ihrer Sache. Feuerwehrmänner, die ihr eigenes Leben gaben, um Leute, die die Kraft längst verlassen hatte, nicht alleine zu lassen und es nie mehr aus dem Gebäude heraus schafften. Das bringt einen sehr, sehr stark zum Nachdenken: Würde man dasselbe machen? Bleiben, obwohl man weiß, dass man sterben wird und es vielleicht noch rechtzeitig hätte hinaus schaffen können? Dieser Zusammenhalt der Rettungskräfte, aber auch der zig Freiwilligen, die alle helfen wollten, so gut sie konnten, ist über das ganze Buch hinaus spürbar und bewegt zutiefst.

Ich kann für das Buch eine klare Leseempfehlung aussprechen, kann es allerdings nicht als Abend- bzw. Bettlektüre empfehlen (den Fehler habe ich gemacht und konnte dann teilweise sehr lange nicht einschlafen). Die Sprache ist klar und flüssig, die Aussagen lassen sich schnell lesen und erfassen. Einzig schleppend sind wie gesagt die Jobbeschreibungen hinter den Namen, was mitunter auch daran liegen kann, dass man damit nicht wirklich etwas anfangen kann, wie die Feuerwehr in Amerika untergliedert ist.
Garrett M. Graff hat wahrlich ein Meisterwerk geschaffen.