Die Gustav-Sonate

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„Die Gustav-Sonate“, so lautet der Originaltitel des Romans. Und Rose Tremain hat ganz sicher den Sonatensatz zum Vorbild genommen, um diesen Roman so kunstvoll zu konstruieren.
Drei Sätze, drei Buchteile. Darüber eine Haupttonart. Und die steht eindeutig im Moll. Auch wenn das Buch in einem Allegro vivace endet.
Erzählt wird die Geschichte zweier Schweizer Jungen, die sich in der Schule kurz nach Ende des Zweiten Weltkrieges begegnen und deren Freundschaft und Liebe der Leser bis ins Jahr 2002 verfolgen kann. Dabei bedient sich die Autorin einiger Zeitsprünge.
Es beginnt 1947. Der kleine Gustav Perle lebt mit seiner verwitweten, verbitterten, letztlich liebesunfähigen Mutter Emilie in der Kleinstadt Matzlingen. In sehr schweren ökonomischen Verhältnissen, mit wenig Zuneigung und Freude aufgewachsen, erschließt sich für ihn durch die Freundschaft zu Anton Zwiebel, der neu in der Klasse ist, eine Welt der bürgerlichen Wohlhabenheit, der Schönheit nicht nur der Musik (Anton ist ein Wunderkind am Klavier), der hellen, freundlichen Tage im Haus der Zwiebels. Gustav ist trotz der schwierigen familiären Bedingungen ein Meister der Empathie und der Zuneigung. Genauso wie er seiner harschen Mutter stets mit Liebe und Achtung begegnet und sich um sie sorgt, kümmert er sich auch um Anton, seine Versagensängste vor Auftritten auf der Bühne und verzeiht ihm auch sein manchmal recht wenig einfühlsames Verhalten Gustav gegenüber. Gustay wird sein Leben lang der sein, der sich kümmert, um die Familie, um Freunde, der, der alles richtet. Und sich dabei fast ein wenig selbst verliert.
Nach dem ersten Teil, der nach einem gemeinsamen Davos-Aufenthalt der beiden Jungen endet – ja, Davos, Remineszenzen an Thomas Manns Zauberberg sind durchaus gewollt -, folgt ein Sprung in die Vergangenheit. Ein Sprung, der mit einem Wechsel vom Präteritum ins Präsens einhergeht. Ein interessantes Stilmittel.
Wir befinden uns nun im Jahr 1937. Erzählt wird von der jungen Emilie, die sich den gut aussehenden stellvertretenden Polizeichef Erich Perle angelt, vom gesellschaftlichen Aufstieg und gutem Leben, dem Ausbruch aus ihrer Dienstbotenexistenz und ihrer elenden Kindheit bei der herzlosen Mutter – klingelt da etwas? Ja, Schicksale wiederholen sich unerbittlich – träumt. Ein Traum, der mit dem Verlust eines ungeborenen Kindes durch eine Tätlichkeit Erichs fast und durch Erichs unehrenhafte Entlassung aus dem Polizeidienst dann endgültig endet. Gefälschte Einreisedokumente für in Deutschland verfolgte Juden waren der Grund und für Emilie Anlass, Juden ihr Leben lang zu beargwöhnen, wenn nicht gar zu hassen. Besonders nach Erichs frühem Tod. Wie das vermeintliche Heldentum des Vaters versucht sie diese Abneigung an Gustav weiterzugeben. Nun sind die Zwiebels aber eine jüdische Familie.
Sehr dicht und eindringlich wird in diesem Abschnitt die Vorgeschichte der Familien, der Grund für psychische Verfasstheiten geschildert und gleichzeitig ein Einblick in die Schweiz der Dreissiger und Vierziger Jahre des vorigen Jahrhunderts gegeben. Für mich der beste Abschnitt des Buches.
Der dritte und letzte Abschnitt macht einen sehr großen Sprung ins Jahr 1992 und zeigt die beiden Freunde als Männer mittleren Alters, beide noch mehr oder weniger gefangen in der engen Welt Matzlingens. Ein wenig Vorgeschichte, Antons Ausbruchsversuch als Pianist für CD-Aufnahmen, Gustavs Existenz als Hotelier, auch hier ganz aufgehend in seiner Sorge um die Hotelgäste. Es endet, wie auf dem Buchrücken angekündigt.
„Es gibt da diese Straße, Gustav. Das weißt du doch. Und genau diese Straße müssen wir nehmen. Wir müssen die Menschen nehmen, die wir schon immer hätten sein sollen.“
Darum geht es in diesem leisen, ganz unaufdringlich, aber doch kunstvoll erzählten Buch: Um die Lebensentscheidungen, die man treffen muss, um die Dinge, die man im Leben überwinden muss, um die Straße, die man wählt. Und um die Menschen, die einen dabei begleiten.
Leider hatte der letzte Abschnitt für mich nicht mehr ganz die Kraft der beiden ersten, geriet mir das Happy-End (Allegro vivace) vielleicht ein wenig zu vollkommen und damit unglaubwürdig.
Trotzdem ein sehr schön erzähltes Buch über ein leises, letztlich gelungenes Leben.