Das Bewusstsein des Verlusts schärft die Sinne

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Bei Helen O'Hara in Neufundland ist es mitten in der Nacht, als ihr ältester Sohn anruft. John hat während einer Australienreise erfahren, dass nach einer sehr kurzen Affäre eine Frau von ihm ein Kind erwartet. Falls John erwartet, dass seine Mutter ihn nun bemitleidet, hat er sich getäuscht. Die Nachricht, dass sie wieder Großmutter wird, weckt in Helen die Erinnerung an den Februar 1982, als ihr Mann Cal tödlich verunglückte. Vor Neufundland sank damals im Sturm die Bohrinsel Ocean Ranger. Niemand von der Besatzung hatte eine Überlebenschance. Im Gegensatz zu anderen, die noch ein paar Tage auf Überlebende hofften, wusste Helen sofort, dass ihr Mann Cal tot war. Immer und immer wieder durchlebt sie seitdem in Gedanken den Unglückstag und was dabei mit Cal passierte, obwohl sie den Ablauf nur phantasiert. Helen erwartete in jenem frostigen Februar ihr viertes Kind, von dem Cal noch nicht wusste. Während Helen in ihrem Kummer aus der Wirklichkeit driftet, bleibt der 10-jährige John mit beiden Beinen in der Gegenwart. Helens Ältester übernimmt mit großem Ernst die Rolle des Mannes in der Familie und fühlt sich seitdem für seine jüngste Schwester Gabrielle besonders verantwortlich. Allein für ihre Kinder hält Helen den Alltag aufrecht und kämpft ums finanzielle Überleben ihrer Familie. Sie selbst fühlt sich wie durch eine Mauer vom Leben getrennt. Die Kinder tragen schon in jungen Jahren zum Lebensunterhalt bei und sparen für ihre Schulausbildung. Helens Gedanken wandern immer weiter zurück. Die unausgesprochene Übereinkunft zwischen ihr und Cal, nicht über die gefährlliche Arbeit auf der Bohrinsel zu sprechen, schnürt beim Lesen die Kehle zu.

In kunstvoll verschachtelten Rückblenden entfaltetet Lisa Moore die Geschichte Helens und ihrer Kinder. Auch die kurze Affäre zwischen John und Jane lebt im Rückblick auf. Mit Mitte 30 will Jane dieses Kind unbedingt zur Welt bringen; doch bei ihrem ersten Anruf lässt John sie am Telefon kalt abfahren. Johns Bindungsängste haben bereits zuvor eine Beziehung scheitern lassen. Als Kind empfand Helen ihren Sohn John als viel problematischer als die drei Töchter, obwohl die Mädchen während der Pubertät keine schrille Eskapade ausließen.

Nach über 20 Jahren Alleinsein hat sich Helen als ältere "Dame" ihren Platz im Berufsleben und in ihrer Gemeinde erkämpft. Niemand hält sie heute mehr für einsam; über jemanden, der so aktiv wie Helen ist, macht man sich keine Gedanken mehr. Helens Töchter stehen ihr zwar wie eine fürsorgliche Front gegenüber, doch bei aller Sorge um die Mutter sind sie stark auf ihre Eigenständigkeit bedacht. Wer hätte gedacht, dass Helen sich mit Mitte 50 Hals über Kopf noch einmal verlieben könnte?

Ihren fesselnden Familienroman widmet die Autorin in ganz und gar nicht rührseligem Ton der Einsamkeit und lebenslangen Treue einer jung verwitweten Mutter. Die Handlung ist an ein reales Ereignis des Jahres 1982 vor der Küste Neufundlands angelehnt. Die Bindungsangst des erwachsenen John, der als Kind viel zu früh Verantwortung tragen musste, wird nur angedeutet und lässt so die eigenen Gedanken zur Mutter-Sohn-Beziehung schweifen. Raum für Assoziationen des Lesers schafft Moore bewusst durch die indirekte Rede in Dialogen und durch abgebrochene Sätze, die erst nach einem Punkt weitergeführt werden.

"Das Bewusstsein des Verlusts schärft die Sinne", hat Lisa Moore nach dem frühen Tod ihres Vaters selbst erfahren. Moores Roman lebt von den sehr präzisen Erinnerungen Helens. Mit dem bewegenden Portrait einer unfreiwillig starken Frau hat die kanadische Autorin meine Wahrnehmung tatsächlich geschärft für Helens Schicksal, das damals über 80 andere Betroffene teilten.