Berührt, bildet, unterhält und klingt nach - Lesen!

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Es gibt ein Schweigen, das so laut ist, dass es beim Leben stört. So in etwa muss Geertje es empfunden haben. Schon früh bemerkt sie, dass mit ihrer kleinen Familie etwas nicht stimmt. Über die einst so zahlreichen Verwandten und ihr Schicksal wird nur verbrämt gesprochen: "Die schöne Laura? Der musikalische Otto? Die leben nicht mehr." Wünscht der jüdische Nachbar über die Hecke frohen Schabbes, ist die Mutter einer Panikattacke nah. Der Vater wirft ihr in lauten Streitereien ihr "inneres Gericht, Selbstbestrafung und Minderwertigkeitskomplexe " vor. Wörter wie Transport, Lager oder Gas sind in jedem Kontext tabu. Dass man jüdisch ist, soll möglichst niemand wissen.
In der Stadtbibliothek verschafft sich die 9-Jährige heimlich die ersten Antworten, bekommt eine vage Vorstellung von dem Grauen, das ihren Ahnen widerfahren ist und das die Mutter und die Großeltern in einer ewigen inneren Emigration gefangen hält. Sprechen kann sie darüber nur mit der gleichaltrigen Esther, die aus demselben Gründen zwischen den Regalen sitzt.
Es ist 1994 in Den Haag, als die 20-jährige Geertje das alles nicht mehr aushält. Die ausbleibenden Antworten, das unscharfe Selbstbild. Wem kann man sich zugehörig fühlen, wenn man nicht weiß, wer man ist? Ein "Paprika-Jantschi, laut, lebhaft, direkt, neugierig, präsent, unruhig, unbesonnen - kurz: auffällig"? Eine Viel- und Schnellleserin, wie alle Rosenbaums, aber nicht ganz so musikalisch? Ein bisschen so wie der rätselhafte, schillernde Onkel Viktor, der ebenfalls 'nicht mehr lebende' Bruder des Großvaters, mit dem sie manchmal verglichen wird ? Na bitte schön, dann eben Rebellin. Geertje flieht nach Nimwegen, ändert ihren Namen in Judith und begibt sich auf Abstand und eine radikale Suche - nach Identität, alten Familiengeheimnissen und - Viktor.
Angelehnt an die Historie ihrer Familie hat die 52jährige niederländische Autorin Judith Fanto einen preisgekrönten Debütroman geschrieben, den man nicht mehr aus der Hand legen kann.
In zwei parallelen Erzählsträngen verknüpft Fanto ein ungewöhnliches Coming-of-Age mit der um die Jahrhundertwende beginnenden Geschichte der großbürgerlichen Wiener Familie Rosenbaum, in deren Mittelpunkt der unangepasste wie großherzige Lebemann Viktor steht.
Wortgewandt, leicht und humorvoll treibt die Autorin die Handlung voran. Die detailreichen, atmosphärischen Beschreibungen, spritzige, prägnante Dialoge und ein empathischer Blick auf die versammelten Figuren, die allesamt Charakter besitzen, machen das Lesen zu einem Vergnügen, selbst als am Horizont das Unheil dräut. Und hier befinde ich mich im Zwiespalt.
Natürlich verfasst die dritte Generation eine andere Art Literatur zur Shoah als die erste oder zweite. „Wem gehört die Shoah?“ lässt Judith Fanto ihre Protagonisten denn auch an einer Stelle des Romans fragen.
Es gibt durchaus Passagen, bei denen man heftig schlucken muss, aber im Großen und Ganzen wird der Lesende etwas zu sehr vor der historischen Wahrheit bewahrt. Man muss nicht alles benennen, um es fühlbar werden zu lassen, aber hat die Autorin die Diskretion und Verbrämung stärker verinnerlicht als ihrer Roman-Judith lieb wäre? Und stammen die zitierten Erlebnisberichte des Urgroßvaters tatsächlich aus dem Familienarchiv der Fantos? Hierfür hätte ich mir ein Nachwort gewünscht.

Als Viktor wegen Rassenschande vor Gericht gestellt wird, die Anklage (trotz schwerer Misshandlungen während der Haft) mit unerschrockenen bis frechen Repliken pariert und sich sein Vater und Anwalt in seinem Plädoyer endlich zu seinen Gefühlen gegenüber seinem Sohn bekennt, klingt alles etwas zu sehr nach Hollywood.
Vielleicht schafft gerade das aber auch die wünschenswerte Zugänglichkeit zum Thema, dessen Komplexität Judith Fanto trotz allem erfasst:
Die von Außenstehenden schwer fassbare „Überlebensschuld“ der Davongekommenen, eine grausam anmutende Hierarchie der Opfer, das Schweigen, das noch die nachfolgenden Generationen prägt, und nicht zuletzt die immer gültige Frage, was uns als Menschen ausmacht. Das Buch berührt, bildet, unterhält und klingt nach. Lesen! ⭐️⭐️⭐️⭐️⭐️/5
(Dank an den Verlag Urachhaus für das Leseexemplar!)