Selbstfindung und Freiheit

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hurmelchen Avatar

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Judith Fanto setzt in ihrem Romandebüt „Viktor“ vermutlich ihrem eigenen Großonkel ein Denkmal, denn ich gehe jetzt einmal davon aus, dass der Roman stark autobiographische Züge trägt.
Erzählt wird auf zwei Zeitebenen die Geschichte der jüdischen Familie Rosenbaum in den 1930 er Jahren in Wien und nicht genau definiert, aber deutlich nach dem zweiten Weltkrieg in der Emigration in den Niederlanden. Wir lernen in Wien die Urgroßeltern und Großeltern der Erzählerin, sowie den schillernden Großonkel Viktor kennen, der trotz großem Humanismus das schwarze Schaf der Familie ist. In der Jetztzeit, der zweiten Ebene, ringt die junge Geertje, die ihrem Namen in Judith ändert und den von den Eltern und Großeltern verschwiegenen jüdischen Glauben leben will, um ihre Identität. Auch sie ist, wie Viktor, somit das schwarze Schaf der Familie. Viktors und Judiths Selbstfindung wird also, Kapitel für Kapitel, parallel erzählt. Das ist, ehrlich gesagt, nur eines der Stilmittel, die nicht besonders originell sind. Um wirklich in die Psychologie der Figuren einzusteigen, sind die kurzen Erzählabschnitte viel zu rudimentär und bestehen zudem hauptsächlich aus Dialogen. Nichts gegen Dialoge an sich, und Judith Fanto schreibt auch ziemlich gute Dialoge, mit viel jüdischen Humor, aber für eine Familiengeschichte, die auch noch das Grauen der Shoah erzählen will, den aufkeimenden Antisemitismus in Wien, ein Familientrauma und Großonkel Viktor als herausragende Persönlichkeit etablieren will, ist mir das deutlich zu wenig. Fanto verfügt über ein großartiges Personal, so z. B. die Figur des Bubi, eines missgebildeten jüdischen Straßenjungen, den der gutherzige Viktor als Kind von der Straße holt und der in der Familie Rosenbaum an Kindes statt angenommen wird. Tolle Geschichte, aber von Bubi erfahren wir nichts... Eben sind er uns Viktor noch Kinder und zwei Kapitel weiter, sind sie junge Erwachsene. Diese enormen Auslassungen, empfinde ich als sträflich. Stattdessen wird schwadroniert und verbal gelitten. Auch von Judith/ Geertje erfährt man so gut, wie nichts, außer, dass sie sich als Jüdin definiert und hinter das Familiengeheimnis kommen will. Es gibt Freunde, einen Lover, eine Schwester, die jedoch alle nicht mehr als eine Fußnote darstellen. Es gibt die eine oder andere tragische Wendung, welche alle im Koffer auf dem Dachboden der Großeltern in Nimwegen verborgen liegen, aber weder emotional, noch historisch, lernt der/ die LeserIn etwas Neues zum Thema „Holocaust“. Das Buch ist routiniert geschrieben und etwas für LeserInnen, die sich bisher nicht, oder wenig mit der Judenverfolgung im Europa unter dem Nazijoch beschäftigt haben.