Ein leiser Roman

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Leerer Stern
elke seifried Avatar

Von

Sowohl ein Bruder Vals auch ihr Verlobter sind im Ersten Weltkrieg gefallen und deshalb lebt Violet mit ihren 38 Jahren noch zuhause. Doch „Solange ihr Vater noch lebte, hatte Violet es auch als erwachsene Frau bei ihren Eltern ausgehalten. Mr Speedwell hatte […] als Puffer für die Attacken seiner Frau gedient. Meistens quittierte er ihre Gehässigkeiten mit hochgezogenen Augenbrauen […] Doch nach seinem Tod blieb Mrs Speedwell nur noch die Tochter als Ziel für ihre Breitseiten.“ Als sich für Violet, die als Stenotypistin für eine Versicherung arbeitet, die Gelegenheit bietet, in deren Zweigstelle nach Winchester versetzt zu werden, ergreift sie diese Chance deshalb sofort. Auch wenn ihre Arbeit schlecht bezahlt wird, sie von extrem wenig leben und sich bei einer strengen Zimmerwirtin einmieten muss, ist alles besser als weiter unter der Fuchtel der Mutter zu leben.

Als Leser lernt man Violet, gerade frisch in Winchester angekommen, kennen und ist zunächst einmal viel mit ihr allein, unter anderem geht man auch mit ihr alleine auf Wanderurlaub. Man erfährt bei Familienbesuchen von den Gehässigkeiten der Mutter. Sprüche wie »…du warst schließlich auch ein dickes Kind. Fett wie ein Yorkshire-Pudding.«, sind keine Seltenheit und darf mit Violet, sofort von den sorgfältig gestickten Knie- und Sitzkissen in der Kathedrale von Winchester wie magisch angezogen, die Leidenschaft fürs Sticken entdecken. „Auch Violet wollte einen Beitrag dazu leisten. Sie würde wohl keine Kinder mehr bekommen, wenn sie also etwas in der Welt hinterlassen wollte, musste sie dies auf andere Weise tun. Ein Kniekissen war zwar eine kleine alberne Geste, aber es war etwas Bleibendes.“ Man schließt sich mit ihr der Stickgruppe an, findet dort mit ihr neue Bekannte, die nach und nach teilweise auch zu Freundinnen werden, und lernt viel über die Staminstickerei. Zudem begleitet man sie auch zur Arbeit und darf dort erleben, wie sie ihrem Chef mehr und mehr die Stirn bieten kann, weil ihr die Stickerei nach und nach Selbstbewusstsein verleiht. Zudem lernt man mit ihr den Glöckner Arthur kennen, wird von seiner Passion fürs Glockenläuten angesteckt, und fühlt sich auch immer mehr zu dem verheirateten Mann hingezogen. Mehr will ich gar nicht verraten.

„Meistens gab es gute Gründe, wenn ein Mann noch zu haben war: Er war entweder überheblich oder humorlos oder zu still. Oder er hielt nichts von Wasser und Seife. Wenn man Violet versicherte, dass ihr jemand ganz bestimmt gefallen würde, reagierte sie darauf mit trotziger Ablehnung.“ Violet lebt in einem England der 1930er Jahre und hat dort mit dem Rollenbild der Frau zu kämpfen. Als alleinstehende Frau wird von ihr erwartet sich um die Eltern zu kümmern, keinen Männerbesuch zu empfangen und sich unterzuordnen. Ihr Kampf dagegen, ihr Versuch sich der Bevormundung zu entreißen wird hier wirklich toll gezeichnet und über Nebenfiguren und oder Unterhaltungen werden zudem auch noch andere Themen der Zeit auf geschickte Art und Weise angesprochen. Uneheliche Kinder, homosexuelle Beziehungen „Sie hatte schon von Frauenbeziehungen gehört und kannte die Kommentare über ungesunde Frauenfreundschaften, die man für eine Folge des Männermangels hielt, ein verzweifeltes Aufbegehren dagegen, als alte Jungfer zu gelten.“, oder auch das Aufkeimen des Nationalsozialismus in Deutschland wird kritisch beleuchtet. die »Dieses Mal weiß ich, was ich tue – und was die Fylfots bedeuten. Ich will bewusst rebellieren und nicht, ohne es zu wissen.«

Die Leiterin der Stickgruppe, Louisa Presel, samt der Knie- und Sitzkissen in der Kathedrale von Winchester, die einem im Roman begegnet, hat es wirklich gegeben und dieser, deren Leben und Werk möchte die Autorin mit diesem Roman ein Denkmal setzen. Ich denke das ist ihr wirklich gelungen, da diese toll portraitiert und ihre Persönlichkeit auf jeden Fall gewürdigt wird. Auch über die Straminstickerei und deren Bedeutung und Verknüpfung mit der Kathedrale erfährt man unheimlich viel und kann die Leidenschaft, die bei Violet dafür entsteht, wie diese sie immer mehr einnimmt, auch nachvollziehen. Allerdings muss man sich auch sicher selbst ein wenig dafür interessieren oder zumindest bereit sein, sich davon zu begeistern lassen, sonst verspürt man leicht die eine oder andere Länge.

Der Roman spielt in Winchester, zu großen Teilen dort auch in der Kathedrale, und das ist stets zu spüren. Ich hatte am Ende fast das Gefühl, die meisten Winkel dort selbst schon einmal gesehen zu haben und auch über die eine oder andere Sehenswürdigkeit in der Umgebung erfährt man auf Violets Wanderung in Richtung Salisbury und von dort durch den New Forest zur Fähre, die sie auf die Isle of Wight bringt, einiges. An Regionalkolorit mangelt es daher an keiner Stelle. Wer sich für Landschaftsbeschreibungen in leisen Tönen begeistern kann, wird hier sicher gut bedient.

„… Violet deutete auf die größte. »Die muss doch ein Gewicht von …« Sie konnte es nicht schätzen. »Sie wiegt dreitausendfünfhundert Pfund – also fast drei Tonnen. Eine der größten Bassglocken Englands. Stellen Sie sich nur mal vor, wie sie die hier hochgeschafft haben. Ist es nicht erstaunlich, dass man diese schweren Glocken schon im Mittelalter bewegen konnte?“ Auch über das Besondere von Kirchenglocken, der Kunst des Glockenläutens, u.a. auch vom Wechselläuten, erfährt man hier unheimlich viel. Der Funke für das Besondere kann beim Lesen durchaus überspringen, wenn man sich darauf einlassen kann.

Der Schreibstil der Autorin liest sich wirklich toll. Ihr gelingt es unheimlich gut, Atmosphäre entstehen zu lassen und sie beschreibt sehr anschaulich, verwendet viele Bilder, ich hatte z.B. die Stickereien, die Läutestube in der Kathedrale von Winchester, oder auch die bohrenden Blicke, von denen sie erzählt, ganz genau vor Augen. Richtig gut hat mir auch gefallen, dass ich immer wieder schmunzeln durfte, wofür vor allem Violets treffende Beobachtungen gesorgt haben. Ein „…pfützenbraunes Kleid mit dem unförmigen Rock und den herabhängenden Stoffmassen am Busen spiegelte ihre Stimmung“, ist nur ein Beispiel dafür. Dass mir der Schreibstil so zugesagt hat, hat mir auch über die eine oder andere Länge, die ich besonders in der ersten Hälfte durchaus verspürt habe hinweggeholfen.

Ich mochte Violet von Anfang an super gerne, sicher auch weil sie mir so leid tat, da ihre Mutter sie so abschätzig behandelt. Ich habe mich über alle ihre kleinen Fortschritte mehr Selbstbewusstsein aufzubauen und sich auch gegenüber Ungerechtigkeiten aufzulehnen gefreut. Die Gehässigkeiten ihrer Mutter haben mir selbst beim Lesen Stiche versetzt. Diese ist in ihrer Rolle wirklich toll gezeichnet, ebenso wie alle anderen Darsteller, bei Bruder Tom angefangen, der Meister im schlechten Gewissen machen ist, über Freundin Maude, die zu ihrer Liebe steht, bis hin zur kleinen Nichte Majory, die ich richtig gern mochte.

Alles ein Roman, der in leisen Tönen von einem ruhigen Leben, das sich an den kleinen Dingen erfreuen kann und einem Versuch sich als Frau im England der 1930er Jahre eine Daseinsberechtigung als Alleinstehende, die nicht bevormundet werden will, zu schaffen, erzählt. Völlige Begeisterung ist bei mir leider nicht entstanden, aber trotz der einen oder anderen kleinen Länge sind noch vier Sterne für mich drin, weil ich doch oft emotional dabei war und auch zunehmend gefesselter gelesen habe.