Ein Jahrhundert, ein Leben

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petris Avatar

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Violeta wird im Jahr 1920, mitten in einer Pandemie geboren. Und sie stirbt ein Jahrhundert später im Jahr 2020, wieder mitten in einer Pandemie. Die Spanne ihres Lebens erzählt sie uns in Briefform. Es ist ein Brief an ihren geliebten Enkel Camilo.
Ihr Leben umfasst viele Umwälzungen in ihrem Land, das nie genannt wird, bei dem man aber genau weiß, dass es Chile ist. Wirtschaftskrise, Diktatur, dazwischen eine kurze Zeit der instabilen Demokratie, Umbruch, wieder Diktatur, Verfolgung und Gewalt. Doch Violeta selbst scheint, trotz einiger Schicksalsschläge, immer auf der Schokoladenseite zu leben. Am Ende ihres Lebens steckt sie ihren Reichtum in eine Stiftung, die sich gegen häusliche Gewalt einsetzt.
Ein spannendes Leben, voller spannenden Begegnungen, mit einem schillernden, aber gewalttätigen Vater ihrer Kinder. Ihre eigene Tochter stirbt jung, der Sohn muss ins Exil, ein Mitglied des Haushalts verschwindet, nachdem er ihren Sohn über die Grenze gebracht hat.
Am Rande spielt die große Geschichte Schicksal, die ihrem Land übel mitspielt.
Das alles ist flüssig zu lesen, lebendig erzählt, lässt einen das Buch nicht mehr aus der Hand legen.
Doch in Wirklichkeit bleibt sehr viel an der Oberfläche. Ihre Naivität, dass sie nie etwas von den Machenschaften ihres Partners mitbekommen hat, erst im Alter durchschaut hat, wie gewalttätig und verbrecherisch die Militärdiktatur wirklich ist, das nimmt man ihr nicht ganz ab. Auch ihr selbstverliebter Blick auf das eigene Aussehen, die Betonung der weißen Haut, ihrer sexuellen Eroberungen, von denen sie dann wieder schreibt, sie wären nicht erwähnenswert und nicht so viele, um wenige Kapitel später wieder ausführlich darüber zu schreiben, das nimmt der Erzählstimme Kraft. Und lässt auch den Rahmen des Briefes an den Enkel nicht ganz authentisch erscheinen. Zudem wurde jede einzelne Geschichte bis zum Ende erzählt, aufgeklärt. Da bleibt nichts offen oder versandet, wie es das im realen Leben oft tut.
Alles in allem eine gut erzählte Geschichte, für 400 Seiten etwas überfüllt mit Handlungen, Ereignissen und Menschen, so dass vieles an der Oberfläche bleibt. Auf diese Weise war für mich die Protagonistin recht schlecht greifbar und konnte mich der Roman, trotz seiner Dramatik, nicht wirklich bewegen.
Für mich nicht der gelungenste Allende-Roman. Für jemand, der noch nie etwas über die Militärdiktatur in Chile gelesen hat, vielleicht ein Einstieg. Zu viel Tiefgang sollte man sich allerdings nicht erwarten.