Ueber die essentiellen Fragen des Lebens

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Das Besondere dieses Romans fällt einem schon nach den ersten Zeilen auf und fesselt einen von Beginn der Lektüre an: Der personale Ich-Erzähler Jules schildert seine Erinnerungen mit einer Fülle an sprachlichen Bildern, die einen sofort für seine Geschichte und für ihn einnehmen:

Der Roman beginnt mit der Schilderung einer Situation, in der Ich-Erzähler nach einem schweren Unfall wieder aus dem Koma erwacht. Er stellt fest: "Ich habe überlebt." (Seite 9). Bruchstückhaft kommen ihm Erinnerungen, und seine "Gedanken irren immer weiter in der Zeit zurück" und so beginnt ein Rückblick in seine Vergangenheit und seine Erinnerungen von dem Moment an, als er, im Alter von elf Jahren nach dem Tod seiner Eltern das gemeinsame Zuhause verlassen und in ein Internat ziehen muss. Dabei wird er auch von seinen beiden älteren Geschwistern Marty und Liz getrennt.

Die sprachlichen Bilder verdeutlichen, wie es in den Jahren nach diesem schweren Verlust in ihm ausgesehen haben muss:
- "Allmählich treten erste Lichter aus der tiefer werdenden Dämmerung hervor, und ich denke an mein altes, vom Zufall zerschnittenes Leben in München, doch das Heimweh ist nur noch eine verblassende Narbe." (Seite 52).
"Ich bin einfach nur da, ein Geist, ein winziges Wesen, elf Jahre alt." (Seite 53)
- "Während ich mich in den Jahren davor im Innersten sicher gefühlt hatte, gab es nun Momente, in denen ich bemerkte, wie mattes Abendlicht in einen schummrigen Flur fiel oder wie die Bäume in der Dämmerung einen gespenstischen Schatten über die Landschaft breiteten, und dann zog sich plötzlich etwas in mir zusammen. " (Seite 55)
- "Wie ein sich ausbreitender Riss nahmen meine Ängste zu." (Seite 55)
- "Es war, als müsste ich für jedes Wort einen Spaten in einen gefrorenen Acker rammen." (Seite 59). Dieser Gedanke geht in ihm vor, als er zum ersten Mal von dem Tod seiner Eltern spricht.

Im Internat scheint kein Platz für Gespräche über Gefühle zu sein und der kleine Junge scheint ganz alleine mit all seinen Gedanken, Sorgen und Gefühlen, bis er eines Tages im Internat das Mädchen Alva kennenlernt. Sie sind sich sofort sehr nah: "Für einen kurzen Moment sah ich den Schmerz, der sich hinter ihren Worten und Gesten verbarg, und sie erahnte im Gegenzug, was ich tief in mir bewahrte. Doch wir gingen nicht weiter. Wir blieben jeweils an der Schwelle des anderen stehen und stellten einander keine Fragen." (Seite 59) und werden beste Freunde (vgl. Seite 60).
Doch auch die Beziehung zu Alva verändert sich mit der Zeit, als sie beide älter werden, Jules aber nach seinen eigenen Schilderungen zu den" Spätzündern, linkischen, unterentwickelten Außenseitern" (Seite 60) gehört. Er denkt viel nach und reflektiert und wirkt dadurch viel reifer, als er eigentlich ist: "Das hier ist alles wie eine Saat. Das Internat, die Schule, was mit meinen Eltern passiert ist. Das alles wird in mir gesät, aber ich kann nicht sehen, was es aus mir macht. Erst wenn ich ein Erwachsener bin, kommt die Ernte, und dann ist es zu spät" (Seite 67). Dass Alva einen anderen Jungen ansieht, wie sie ihn noch nie angesehen hat, hinterlässt bei Jules "ein aschiges Gefühl der Unterlegenheit, das in den folgenden Jahren nie ganz verschwinden sollte" (Seite 67).
Die Beziehung zu seinem Bruder Marty beschreibt der Ich-Erzähler wie folgt: "Wenn ich in jenen Jahren an meinen Bruder dachte, dann hatte ich immer das Bild einer geschlossenen Tür vor Augen. (Seite 64). Allgemein stellt er über sich sich und seine Geschwister fest: "Wir machten sonst nur noch wenig gemeinsam, dafür bot das Internat zu viele Parallelwelten" (Seite 69), aber wenn sie bei ihrer einzigen verbliebenen Verwandten, ihrer Tante, in München sind, dann sind sie einander wieder etwas näher.
Auf einem der Weihnachtsfeste, das die drei Geschwister bei ihrer Tante verbringen, kommt es zu einer Eskalation, denn Marty gibt wieder, was andere Jugendliche im Internat über ihre Schwester Liz sagen: Sie sei eine Schlampe, schlafe für Drogen mit anderen Männern und sei sogar schwanger geworden (vgl. 74). Kurze Zeit nach Weihnachten verschwindet Liz für viele Jahre aus dem Leben ihrer Brüder und Jules wartet all die Zeit auf eine Lebenszeichen von ihr: "Wie ein Schiffbrüchiger, der unermüdlich an den Knöpfen eines Funkgeräts dreht, in der Hoffnung, endlich auf eine Stimme zu stoßen. Doch alles, was von meiner Schwester kam, war jahrelanges Rauschen." (Seite 74). Doch nichts kommt.

Die Rückblicke sind in Abschnitte unterteilt, die betitelt sind mit "Strömungen (1980)", "An der Weiche" (1983-1984), "Kristallisation" (1984 - 1987), "Chemische Reaktion" (1992), "Die Ernte" (1997-1998) im ersten Teil und mit "Der Weg zurück" (2000-2003), "Der Flug der Zeit" (2005-2006), "Die Entstehung der Angst" (2007-2008), "Das Unveränderliche" (2012-2014) und "Ein anderes Leben" im zweiten Teil. Die Titel lassen die Assoziationen von Bewegung, Entwicklung, Prozess zu und verdeutlichen und unterstreichen damit die zentralen Themen des Romans:

Eines der zentralen Themen des Buches ist Einsamkeit. Sie wird in vielen Facetten gezeigt und bezieht sich nicht nur auf die Hauptperson, auch wenn diese einen durch die personale Erzählperspektive am stärksten mitfühlen lässt, sondern auf alle zentralen Figuren des Romans.
"Oft denke ich daran, wie meine Geschwister und ich und nach der Kindheit aus den Augen verloren haben. Wie wir früh gezwungen waren, uns mit der Endlichkeit des Lebens auseinanderzusetzen, und völlig unterschiedlich darauf reagierten (Seite 350).

Ein weiteres Thema ist die Selbstauseinandersetzung. Dies zeigt sich auch im Titel, denn auf den ganzen Roman bezogen zeigt er, dass die fortwährende Selbstauseinandersetzung und das Sich-Öffnen dazu führen können, dass man einen Weg aus der Einsamkeit findet. Und auch wenn die Schwere, die sich durch den ganzen Roman zieht, nie ganz verschwindet, so hat der Roman doch etwas Hoffnungsvolles, was dieses Zitat verdeutlicht: Die Einsamkeit in uns können wir nur gemeinsam überwinden" (Seite 351).

Über allem steht die Frage, welche schicksalhaften Fügungen letztendlich dazu führen, dass das eigene Leben so wird, wie es wird: "All das ist möglich geworden und dass aus Tausenden Varianten ausgerechnet diese zustande gekommen ist, schien mir lange zufällig geschehen zu sein" (Seite 337). "Erst später habe ich verstanden, dass in Wahrheit nur ich selbst der Architekt meiner Existenz bin" (Seite 337).

Ein Roman mit Tiefe, der einen berührt, mitnimmt, fesselt, zum Nachdenken anregt. Ein Roman, der nicht beendet ist, wenn man ihn zuende gelesen hat.