Von der Kurzweiligkeit des Reifens.

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maudh Avatar

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Kennt ihr das, wenn man nach einem Buch mit starkem Sog plötzlich die Leere fühlt? Bestenfalls noch die letzten Zeilen in der Öffentlichkeit liest und sich nach dem letzten Satz fragt, wieso denn jetzt bitte die Welt nicht einen kurzen Moment innehält und wenigstens einmal stehenbleibt um kurz durchzuatmen? So passiert bei Benedict Wells' "Vom Ende der Einsamkeit".

Die Ich-erzählung von Jules, als Rückblick über mehrere Jahrzehnte, packt. Der Spross einer deutsch französischen Ehe wird jäh zum Waisenkind, und somit hält der Ernst des Lebens ungewollt Einzug in Jules Leben. Auch seine Geschwister Marty und Liz verarbeiten die Geschehnisse auf ihre eigene Art. Den weiteren Verlauf sollte man am besten selber erfahren und erfahren, denn es ist eine Erzählung der Höhen und Tiefen, vieler tiefer Tiefen und vieler ach so schöner Höhen, die die Tiefen tiefer werden lassen.

Das Gespür für Lesersog hatte Wells immer. Ebenso wie für einzelne wundervolle Sätze, Situationen, kleine Momente die ein Buch reicher machen. Bisher ist mir sein Stil jedoch immer mal wieder als holprig überschwänglich aufgefallen. Das hat sich radikal geändert. "In so kurzer Zeit ein solcher Reifeprozess, beeindruckend", dachte ich mir so. Bis mir auffiel, dass rückblicksbedingt der Bericht ja eigentlich von einem Menschen geschrieben wird, der schon zu den älteren Semestern gehört und definitiv lebenstechnisch gesehen in seinem Leben eine gute Portion Reifekatalysator dazubekommen hat. Also gewollt: kluger Schachzug Herr Wells. Und äusserst gelungen. Geblieben sind unzählige popkulturelle Anspielungen, die unglaublichen Spass machen. Wie es scheint, haben Jules und ich dieselben Referenzen in dem Bereich (dass er eigentlich mindestens 20 älter sein muss fällt einem erst im Nachhinein ein, continuity ist einem eigentlich egal).

Wehmutstropfen fallen mir erst im Nachhinein ein. Und auch wenn jetzt mit einer Genderkeule rechnen muss: es ist ein Frauenbuch, definitiv. So viel Romantik, Herzschmerz, die große Packung an Gefühlen, gerade ist man glücklich wird man wieder traurig, Achterbahn halt. Aber das auf sehr hohem Niveau. Und das beste Geschenk dass man seinen Lesern machen kann, ist doch, sie aus der Realität abzuholen. Das man dabei eine Entwicklung miterleben darf und Spannung aufgebaut wird, macht daraus ein Schmankerl. Es ist von vorne bis hinten Jules, mit Jules Enstcheidung, Handlungsmustern und Erfahrungswerten, die ihm helfen sich weiterzuentwickeln. Dass der Autor 7 Jahre an dem Roman geschrieben hat, erstaunt wenig. Die Figuren sind rund, und Reifeprozesse brauchen Zeit, sowohl im realen Leben als auch im Buch.

Fazit: Pageturner der besten Sorte, mit Heiterkeit, viel Melancholie und viel viel Liebe zu den Charakteren. Lesen!