Traurigkeit und Wut im ständigen Wechsel

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Leerer Stern
wuschelchen99 Avatar

Von

Phoebe ist mit ihren 9 Jahren die „Wortgewalt“ in Person. So jedenfalls wird sie von einer Lehrerin beschrieben. Doch nicht in Form von Gewalt wie Wehtun schreibt sie unheimlich viele Briefe an ihre 16jährige Schwester April, die wegen Magersucht in einer Klinik ist. Phoebes Worte sind einfach nur sehr, sehr viele und mit diesen teilt sie ihrer Schwester ihre täglichen Erlebnisse, aber auch ihre Sehnsucht nach April mit. Doch leider bekommt Phoebe keine Antwort, obwohl April alle Briefe ihrer Schwester liest und beantwortet, aber nicht abschickt. Zwei sich über alles liebende und sich sehr ähnliche Schwestern hoffen auf ein Wiedersehen.

Im ersten Teil kommt ausschließlich Phoebe zu Wort und Worte sind ihre Freunde. Es ist unglaublich, wie sie es schafft, z.B. das Wort „Versprechen“ auseinanderzunehmen und darin nicht das Positive, sondern eher das Negative in Form von „Da habe ich wohl etwas Falsches gesagt“ darin sieht, vor allem wenn Erwachsene das sagen. Diese Wortgewandtheit bringt ihre Eltern an den Rand der Verzweiflung, aber dabei ist Phoebe doch so ehrlich, offen und hoffnungsvoll. Sie hat eine schnelle Auffassungsgabe, ist eine sehr gute Beobachterin und Zuhörerin und schreibt oder formuliert ihre Worte einfach frei von der Leber weg. Und nebenbei ist Phoebe die beste Freundin von Paula und Hazel. Aber nichts geht ihr über die abgrundtiefe Liebe zu ihrer Schwester April, die sie mehr als den Frühling vermisst.

Erst im zweiten Teil erfährt der Leser mehr von April selbst. Auf alle Briefe antwortet sie, doch ihre Eltern haben verboten, dass sie abgeschickt werden. Und genau da haben wir das Problem: April und Phoebe sind sich im Wesen und auch in ihren Worten so ähnlich, dass die Eltern nicht mit dieser Wortgewalt umgehen können. Bei April haben sie einfach aufgegeben und sich selbst überlassen. Kein Wunder, dass April eine neue Freundin namens Ana hat, doch diese ist tödlich.

Eine unglaubliche Geschichte, die Lilly Lindner in "Was fehlt, wenn ich verschwunden bin" schildert. Der erste Teil erschien mir hin und wieder zäh, denn mit den vielen „Klugscheißer-Sätzen“ eines kleinen Mädchens musste ich mich erst einmal anfreunden. Doch als ich sie einfach nur gelesen habe, wie sie waren, also hoffnungslos ehrlich und offen, kam ich besser voran. Ständig begleitete mich die Traurigkeit von Phoebe, doch es war auch sehr viel Unverständnis über die Eltern dabei, die die Hilferufe von April nicht wahrnahmen und einfach aufgaben. Vieles blieb im Dunkel und war noch unklar, da die Sicht von April fehlte.

Im zweiten Teil packte mich sehr oft die Wut. Denn genau dazu wechselte das Unverständnis über die Eltern aus Teil 1. Ich selbst als Mutter von zwei Kindern kann nicht nachvollziehen, wie es möglich ist, dass eines der Kinder aufhört mit den Eltern zu kommunizieren, nichts mehr isst und die Eltern dem Kind dafür Vorwürfe machen?! Wo ist denn der Fehler? Wie können Eltern einfach aufgeben? Auf der anderen Seite arbeitet die Mutter mit Pflegekindern im sozialpädagogischen Bereich. Genau an dem Punkt muss doch Wissen über hochintelligente Kinder vorhanden sein. Ich hatte das Gefühl, die Eltern betrachteten April regelrecht als Strafe des Lebens. Nur dumm, dass das Ersatzkind Phoebe für das abgelehnte Kind die exakt gleichen Wesenszüge hat. Ja wie heißt es doch gleich hier bei den Schwaben: Was recht ist kommt wieder. Und es ist ja viel einfacher, die Probleme, die die Eltern miteinander haben, auf die Kinder abzuwälzen.

Selten hat mich ein Buch so berührt, im positiven wie im negativen Sinne. Das ständige Auf und Ab der Gefühle beim Lesen machte mich vor allem im zweiten Teil des Buches fast irre und ließ mir keine Ruhe, bis ich es komplett gelesen hatte. Das Thema Magersucht ist sicher kein einfaches Thema. Doch das Buch bietet ja noch viel mehr: Wahre Freundschaft, unglaublich tiefe Geschwisterliebe, Umgang mit hochintelligenten Kindern, deren Andersartigkeit und die Hilflosigkeit der Eltern mit dieser Situation. Die Sicht bzw. die Gefühle der Eltern kamen leider nur selten bis gar nicht zum Vorschein, was mit etwas geärgert hat. Das reißt auch die Szene am Ende, als die Mutter das letzte Mal April besucht, nicht heraus. Für diesen Umstand muss ich dem Buch einen kleinen Abzug geben. Denn das hätte das Buch echt rund gemacht und zu einem Überflieger werden lassen. Doch eine dicke Leseempfehlung ist es trotzdem wert.