Kolloid der Träume

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bobbi Avatar

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Die Lektüre von „Weiße Nacht“ ist ein poetisch-wirrer Sprung in eine surrealistische Welt – voller Träume, paralleler Leben und mysteriösen Charakteren. Es ist Ayamis letzte Schicht im Hörtheater für Sehbehinderte und es herrscht gewaltige Hitze in den Straßen von Seoul. Die junge Frau und ehemalige Schauspielerin macht sich mit dem Theater-Direktor auf die Suche nach einer gemeinsamen Freundin, die verschwunden ist. Und schon verschwimmen langsam die Zeitgrenzen und es öffnet sich eine Tür in ein Spiegelkabinett voller fantastischer Träume. Ayami soll den deutschen Romanautor Wolfi in der Stadt herumführen, ein Gewirr aus Straßen sowie hell und dunklen Lichtern, ominösen Radios mit Seewetterdurchsagen und ein weißer, im Kreis fahrender Bus. In die flirrende Hitze des halluzinatorischen Streifzugs mischt sich ein subtil düster-spannender Plot, der wie gemacht für David-Lynch-Fans ist. Ayami zweifelt an ihrer Wahrnehmung, hört Stimmen aus der Ferne und vergangenen Zeiten, ist mental in Kontakt mit dem werklosen Dichter Buha. Langsam entfaltet sich ein fiktiver, vielschichtiger Kosmos voller Kontraste, in dem sich Handlungen und Zeichen auf anderen Ebenen wiederholen.

Bae Suahs Sprache ist voller Kraft und Poesie, inhaltliche wie sprachliche Wiederholungen spielen neben den bildgewaltigen Szenen, die tief ins Unterbewusste dringen, eine tragende Rolle. Das flirrend heiße Seoul ist szenisch sehr dicht und plastisch herausgearbeitet. Daneben fließen metaphysisch Roman-Zitate aus „Die blinde Eule“ von Sadeq Hedayat sowie militärische Bilder mit Bezug auf die nördliche Halbinsel ein. Und auch das traditionelle koreanische Frauenbild blitzt durch: Wieviel Unabhängigkeit wird geduldet? Viele versteckte Verweise und Codes stecken in der Geschichte, manche sind nicht zu enträtseln und schwappen hinüber zur Welt, die voller Ein- und Ausgänge sowie Déjà-vus zu sein scheint.

Diese eigensinnige, eindringliche und metaphysische Erzählung einer der wichtigsten südkoreanischen Schriftstellerstimmen der Gegenwart lässt sich in keine Kategorie einordnen und gleicht einer mystischen Traumwelt, in der sich Schamanen und Doppelgänger hinter dem Spiegel die Hand reichen und wieder abtauchen in andere Welten. Ein Roman, der literarisch mit seiner originellen und lyrischen Sprache besticht und Grenzen der Wahrnehmung auslotet – nicht für alle empfehlenswert, aber für Surrealismus-Liebhaber auf jeden Fall!

„Es war die Zeit des Jahres, in der der Schlaf am dünnsten war, die Luft in extremer Höhe. Aber es war auch die Zeit, die von einem Kolloid der Träume beherrscht wurde, dominiert von Schwerkraft und Dichte.“ S. 20