Mitnehmen in eine andere Welt

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Ayami ist Schauspielerin und arbeitet an einem Ort der Sinneseindrücke: in einem sogenannten Hörtheater, dem letzten seiner Art im südkoreanischen Seoul. Dieses steht kurz vor der Schließung, und Ayami macht sich Gedanken: über ihre (berufliche) Zukunft, ihr Leben, ihre Vergangenheit und Herkunft. Es entspinnen sich mal liebevolle, mal nahezu wahnhafte Gespräche mit ihrem Chef, dem Direktor des Hörtheaters, sowie einem Dichter (oder doch eher Autoren von Kriminalromanen?), dem sie in Seoul als Dolmetscherin dient, und ihrer Deutsch-Lehrerin Yoni. Und dann gibt es da noch Buha, ein (junger?) Mann, der sich an Ayamis Fersen heftet, sie vermeintlich zu kennen scheint, mit ihr in Dialog (oder mehr Monolog?) tritt. Die Realitäten verschwimmen mehr und mehr, Ayami verliert zunehmend den Halt und sich selbst in der Hitze der Stadt, ihren Visionen, Erinnerungen und Träumen.

„Weil mir bewusst wurde, dass ich, der die Dichter bemitleidet hatte, selbst bemitleidenswert bin, weil auch ich immer daran gescheitert bin, andere zu überzeugen“. (S. 50)

In „Weiße Nacht“ erleben wir einen Fiebertraum des magischen Realismus par excellence. Die südkoreanische Autorin Bae Suah lässt Wahrheiten und Wirklichkeiten verschwimmen, webt einen Teppich aus Existenzen, derer man sich niemals sicher sein kann. Wer ist wer? Wer begegnet wem? Oder ist vielleicht doch alles nur Einbildung und Fantasie? Wir folgen der Protagonistin Ayami durch das hitzegeschwängerte Seoul voller Ruhe, durch zum Teil unwirklich anmutende, menschenverlassene Viertel auf der Suche nach einer Aufgabe. Immer wiederkehrende Motive kreuzen dabei ihren und unseren Weg. Was bedeutet die „Katze im Vogelkäfig“, die „Frauen mit den pockennarbigen Gesichtern“?

Bae Suah skizziert hier eine Welt des Unzuverlässigen. Die Perspektiven verschieben sich permanent, so dass Ayami sich nicht nur der Identität der anderen, sondern teilweise auch ihrer eigenen permanent vergewissern muss. Sprachlich geschieht dies murakamiesk: Bae Suah arbeitet vielfach mit Gegensätzen und Wiederholungen, die durch minimale Irritationen die Realitäten driften und sich verschieben lassen, dabei aber stets ruhig und bedächtig erzählt. Sie thematisiert die Parallelitäten des Lebens und die Vergänglichkeit von Existenzen. Ayami, die als junges Mädchen mutmaßlich adoptiert wurde, begibt sich in einem Moment auf eine Spurensuche, findet sich im nächsten in einer Talkshow wieder, in der sie auf ihre (vermeintliche?) Mutter trifft, und entwickelt im übernächsten das Gefühl, dass all diese Erinnerungen womöglich gar keine Rolle spielen.
„Weiße Nacht“ ist ein kleiner, feiner Roman für Fans von Haruki Murakami oder auch den kürzlich veröffentlichten Erzählungen Yukiko Motoyas. In Traditionen moderner asiatischer Narrative gelingt Bae Suah ein still-verwirrendes, stringent-gegensätzliches Werk – poetisch, motivreich und schwarz-weiß-bunt! Ich glaube, ich mochte es. Oder?