Auf nach Zoppot/Sopot und Danzig /Gdansk...

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern
alsterschwan Avatar

Von

Vor Lesebeginn hatte ich schon einige negative Kritiken gesehen (allerdings überwogen die positiven), so dass ich etwas skeptisch an „Wenn wir wieder leben“ heranging.
Aber Charlotte Roth ist es erneut mal wieder gelungen, mich bereits auf der ersten Seite „abzuholen“ und mich in ihren Bann zu ziehen, so dass ich jetzt am liebsten sofort meine Koffer packen und auf den Spuren von Gundi und Wanda durch Zoppot/Sopot und Danzig/Gdansk spazieren würde.
Erzählt wird die Geschichte in zwei Zeitsträngen: Wanda steht für die unmittelbare Nachkriegsgeneration (1944 geboren) in Berlin 1963/64 und Gundis Weg verfolgen wir intensiv in der Zeit 1927 – 1945.

Ich möchte es nicht verschweigen: mit Gundis Wesen hatte ich anfangs so meine Schwierigkeiten: ein vom Großvater verwöhntes Kind, sie entwickelt sich zu einer (fast nur) auf sich selbst bezogenen jungen Frau, die wenig Rücksicht auf die Gefühle anderer Menschen nimmt, bzw. sie meist gar nicht wahrnimmt. Nein, ich glaube, mit Gundi wäre ich nicht gern befreundet…aber wo steht, dass ich das muss? So singt und „tänzelt“ Gundi durch die 20-er und 30-er Jahre… und nimmt die Bedrohung durch Hitler und seiner NSDAP kaum wahr („Adolf Hitler ist als Hosenmatz zu heiß gebadet worden, lass den doch reden.“ S. 301). Erst 1939 ändert sie ihre Sichtweise langsam – aber leider (wie wir alle wissen) zu spät. „Ich war zu faul, zu diesen Wahlen überhaupt hinzugehen“ (S. 450). Aber dann wird sie „erwachsen“ und trifft weitreichende Entscheidungen, die sie mir sehr sympathisch machen…
Wanda hat 1963 ein wohl typisches Problem ihrer Generation: angeregt durch einen Kommilitonen bestürmt sie ihre Mutter mit der Frage nach deren Verhalten während des Nationalsozialismus: „Ich habe ein Recht darauf zu erfahren, wer ich bin und was meine Familie getan hat.“ (S. 57) und setzt damit eine Kette dramatischer Reaktion in Gang. Mit Hilfe von Freunden gelingt es ihr, die Puzzleteile ihrer Familie zusammenzusetzen und Frieden mit ihrer Vorgeschichte zu schließen.

Charlotte Roth beschreibt auf beeindruckende Art (leicht verständlich, flüssig, scheinbar nebensächlich) den Aufstieg der NSDAP, ihre immer stärker werdende Macht, die langsame Infiltration des nationalsozialistischen Gedankengutes in die Denkweise der Bevölkerung… Da der Ort der Handlung Zoppot und Danzig sind, habe ich auch beiläufig viel über die Freie Stadt Danzig (sie wurde 1919 vom Deutschen Reich getrennt und zu einem unabhängigen Staat erklärt, der unter Aufsicht des Völkerbundes stand) erfahren - so macht es richtig Spaß, sich mit deutscher Geschichte zu beschäftigen… und natürlich habe ich auch Joseph von Eichendorfs „In Danzig“ und Paul Celans „Espenbaum“ gegoogelt…

Das Cover hat mich sehr angesprochen, es ist im Stil der anderen Charlotte Roth-Bücher gehalten und hat somit einen Wiedererkennungscharakter.

Ich habe mich wunderbar unterhalten gefühlt und möchte hiermit eine ganz klare Leseempfehlung für dieses Buch aussprechen, Charlotte Roth hat mich – mal wieder – nicht enttäuscht, sondern zum Nachdenken angeregt. Aus diesem Grund: volle Punktzahl!