„Vergessen wollen“ wird in der nächsten Generation zu „nicht wissen wollen“

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allegra Avatar

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In ihrem Roman „Wenn wir wieder leben“ begibt sich die Autorin Charlotte Roth nach Danzig und ins benachbarte Seebad Zopot. Sie nimmt die Leser*in auch ein Stück weit mit in die Vergangenheit ihrer eigenen Familie und bringt die wechselhafte Geschichte der Stadt Danzig, die im Zentrum des Ausbruchs des 2. Weltkriegs stand, auf verständliche Weise näher. Zumindest ich hatte bisher zwar verstanden, dass Danzig besonders wichtig war, aber die Vorgeschichte der Region zwischen Polen und Deutschland wurde mir erst durch diesen Roman bewusst.
Charlotte Roth erzählt die Geschichte der jungen Studentin Wanda, die sich im Jahr 1963 in Berlin beginnt Fragen zu stellen, was ihre Familie in der Vergangenheit durchlebt hat und wie sie nach Berlin gelangt ist. So führt der andere Erzählstrang ins Jahr 1927 in Danzig und ins Ostseebad Zoppot. Gundi erlebt eine glückliche Kindheit bei ihrem Großvater Pop, wo sie viel Liebe empfängt und viele Freiheiten genießt. Mit ihrer Halbschwester Lore und zwei Jungs, Erik und Julius gründet sie mit 17 Jahren eine Band. Der rote Faden der Geschichte ist der Aufstieg der Band, bzw. der Kapelle und die Suche nach dem ultimativen Lied, das Gundi zu schreiben verspricht.
Ohne zu viel vom Inhalt vorweg zu nehmen, kann man erwarten, dass der Nationalsozialismus natürlich in Zoppot und Danzig seine Spuren hinterlässt. Gundi, Lore, Erik und Julius führen lange ein relativ sorgloses Leben, wollen die Entwicklungen nicht sehen oder profitieren davon, ohne direkt offensichtlich Böses zu tun.
Durch den Wechsel der beiden Zeitstränge, die oft mit einem Cliffhanger enden, wird man als Leser immer wieder motiviert, weiter zu lesen. Die Handlung wird vor allem in der zweiten Hälfte des Romans zunehmend spannender. Das letzte Drittel habe ich fast am Stück gelesen.
Obwohl mir das Buch insgesamt sehr gut gefallen hat, bin ich mit den meisten Protagonisten nicht wirklich warm geworden. Die Hauptfigur Gundi weist alle Charaktereigenschaften auf, die ich in meinem Leben verachte. Gundi ist naiv, narzisstisch, nutzt andere Menschen sowohl emotional als auch in alltäglichen Situationen aus. Sie hat eigentlich nichts gelernt und erwartet eher ein Wunder, als dass sie bereit ist, richtig hart zu arbeiten. Aber vielleicht gerade weil es im wirklichen Leben durchaus solche Menschen gibt, mit deren Marotten man zu kämpfen hat, fand ich das Buch sehr realistisch. Auch die Thematik des Hinterfragens, was die eigene Familie in der Zeit des Nationalsozialismus gemacht hat, finde ich sehr wichtig.
Von mir erhält es 5 Sterne und eine Leseempfehlung.