Wenn man mit der Vergangenheit leben muss

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elke seifried Avatar

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„...und kann nicht aufhören, mich zu fragen, ob ihr Vater Hurra geschrien hat, als meine Großmutter, meine Onkel und Cousinen sich in der Gaskammer totgeröchelt haben.“ In der Mensa trifft Wanda auf Andras, der all seine Angehörigen im Zweiten Weltkrieg verloren hat. Sein ganzer Lebensinhalt ist es im Moment Beweise für einen anstehenden Ausschwitzprozess zu sammeln. Durch ihn wird auch Wanda neugierig auf ihre Vergangenheit, von der ihre Matti und Tante Lore nie sprechen wollen. Sie beginnt nachzuforschen. Wo liegen ihre Wurzeln, 1944 geboren in Zoppot bei Danzig, was haben ihre Vorfahren erlitten oder gar verbrochen? Neugier und Angst vor der Wahrheit werden zu ihren Begleitern auf der Suche nach der Wahrheit.

Die Autorin spielt mit zwei unterschiedlichen Handlungssträngen, die sich in längeren Abschnitten gelungen abwechseln. Im Jahr 1963 begleitet man Wanda bei ihrer Suche. Ist mit ihr neugierig, stellt Fragen und reist, hat aber auch Angst, dass Matti und Tante Lore eventuell auf der falschen Seite gestanden haben könnten, denn wenn ja, was dann? Wird sie die beiden weiter lieben können? Der zweite Handlungsstrang beginnt im Jahr 1927 in Zoppot und endet mit den letzten Tagen des zweiten Weltkriegs Jahre später. Die vier von Zappot, vier Freunde, allen voran Gundi Sonnenschein mit ihrer Leidenschaft für die Musik, ihre Halbschwester Lore und die beiden Jungs Juju und Erik, lernen sich kennen, gründen einen Band und dann geht es darum, die große Welt, Luxusleben und dabei Naziparolen ignorieren, oder doch Mensch mit Kopf und Herz bleiben? Mehr wird an der Stelle nicht verraten.

„Manchmal wünschte ich, man könnte sich die Gefühle und Gedanken, die in einem so fuhrwerken, von einem Arzt rausschneiden lassen wie einen Furunkel. Und dann neue einsetzen, die besser passen.“ Auch wenn das auch einem Autor natürlich nicht möglich ist, ist es Charlotte Roth durchaus gelungen mit ihrem einnehmend, lockeren Schreibstil viele Gefühle bei mir zu erzeugen. Mitleid, Unverständnis, Trauer, Angst, hier ist eine breite Palette vertreten und ich habe zunehmend neugierig mit gefiebert, was denn nun am Ende wirklich geschehen ist, denn das war so auch nicht vorher absehbar. Sehr gut hat mir auch der oft pointierte, bildhafte Stil gefallen, mit dem sie hier ans Werk geht. „Julius war wütend auf sich selbst. Er hatte keinen Grund, eine Frau zu beneiden, der die Schminke aus den Falten bröckelte und die ihren perlenden Champagner allein trinken musste, ohne dass jemand mit ihr anstieß.“, ist nur ein Beispiel dafür. Die Seiten sind regelrecht geflogen, auch wenn die Zeit bis denn eine Band auf den Füßen steht sich vielleicht ein bisschen zieht, aber hier erfährt man ganz viel über das Leben der Bevölkerung damals.

Die Autorin hat ihren Charakteren allesamt viel Tiefe verliehen. Gundi Sonnenschein, vom Opa verhätschelt, nur immer auf der Sonnenseite des Lebens gestanden ist zweifelsohne die Hauptdarstellerin im Strang rund um den Zweiten Weltkrieg. Sie hat nie zurückstecken müssen, dass einfach nie gelernt und so verhält sie sich auch. Schnell betrachtet ist sie egoistisch, rücksichtslos und mit Scheuklappen ausgestattet, allerdings kann sie ihre Gegenüber allesamt für sich einnehmen. „Weil du eben Sonnenschein bist und ich so eine Art Dauerregen samt Bodenfrost“, ihre Halbschwester Lore steht stets in ihrem Schatten, und mit Erik und Juju, spielt der Sonnenschein scheinbar nur, wohl aber ohne das selbst bewusst wahrzunehmen, was mir aber trotzdem für beide Herren sehr leid getan hat. Auch die anderen Nebendarsteller dieser Zeit sind toll gezeichnet, bei Polin Zosi angefangen, der Gundi immer dann begegnet, „wenn eine von uns das, was die andere braucht, zu verschenken hat“, bis hin zu Opa Pop für den gilt „Wenn man sich Menschen backen könnte, wie sie sein sollten, hätte man Pop als Modell benutzen können.“ Wanda ist neugierig, hat einiges zu ertragen und ich habe mit ihr gelitten.
„Wann waren die alle in diese komische Nazipartei eingetreten? Waren die, seit die in Deutschland die Wahl gewonnen hatte, zu einer Art Schnupfen geworden, mit dem sich jeder ansteckte?“ einer nicht um sich schauenden Gundi Sonnenschein oder ein „Ich war zu faul, zu diesen Wahlen überhaupt hinzugehen. Politik, davon versteh ich nichts, dachte ich, was soll ich also da ankreuzen? Und jetzt stehen wie hier…“, ihrer Schwester sind nur zwei Beispiele dafür, wie gelungen die Autorin die Frage nach der Schuld, die Menschen sich im Zweiten Weltkrieg auf sich geladen haben, hier thematisiert und erfahrbar machen. Freiwillig zum Militärdienst aus Euphorie, Polen im Käsekeller vor der Deportation retten, sich mit Hitler und Himmler in einem Ballsaal tummeln, hier werden vielfältige Möglichkeiten aufgezeigt, die dem Leser helfen sich auch in die Zeit zu versetzen. Nicht zum Vergeben und Vergessen, aber verstehen und nachvollziehen kann man sicher so einiges besser.

„Die Vorstellung, die Hölle ihrer Vergangenheit noch einmal durchleben zu müssen erfüllt sie mit solchem Grauen, dass sie lieber schweigen. Ihre Peiniger davon kommen lassen.“ Auch die Spätfolgen die Opfer der Naziverbrechen, nicht wenige konnten mit den Erinnerungen nicht weiterleben, wird hier toll beleuchtet.

Mit dem Vertrag von Versailles 1919 wurde Danzig mit seinen umliegenden Gebieten vom Deutschen Reich getrennt, zu einem unabhängigen Staat, der Freien Stadt Danzig, erklärt unter Aufsicht des Völkerbunds gestellt. Im Roman erlebt man die Entwicklung der Stadt so richtig mit. Das Zusammenleben von allen, Stimmen die laut werden, dass Danzig wieder zum Deutschen Reich muss, aufkeimende Judenfeindlichkeit, Deportationen, Vertreibung und Tötung von Polen,…. Wer etwas über die Geschichte dieser Stadt erfahren möchte, bekommt dies hier auf unterhaltsame Weise ganz nebenbei geboten. So macht Geschichte Lernen Spaß und bleibt in Erinnerung.

Alles in allem hat Charlotte Roth mit ihrem historischen Roman wirklich gefühlvolle, einnehmende, spannende und historisch interessante Unterhaltung geboten, weshalb ich fünf Sterne gerne vergebe.