Jeder Moment ist eine Ewigkeit

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frau.gedankenreich Avatar

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"Ich bin alt.
Das ist das Wichtigste, was es über mich zu sagen gibt. Und das, was am schwersten zu glauben ist. Könntest du mich sehen, würdest du mich für etwa vierzig halten, aber damit lägst du weit daneben." [S. 11]

Inhalt:
Tom Hazard ist kein gewöhnlicher Mann, denn er ist weit über 400 Jahre alt.
Er leidet unter "Anagerie"; einer Veranlagung, die in der Pubertät zutage tritt und dafür sorgt, dass er wesentlich langsamer altert als der Großteil der Menschheit.
Als er Kontakt zu einem Arzt aufnimmt, in der Hoffnung mehr über sich und seine Veranlagung zu erfahren, tritt eine Geheimgesellschaft an ihn heran, die ihm das Angebot unterbreitet, im Austausch für kleinere Gefälligkeiten, fortan für seinen Schutz zu sorgen.
Tom nimmt das Angebot an und lebt ab diesem Zeitpunkt quasi immer auf dem Sprung, denn um sein Geheimnis vor der Öffentlichkeit zu verbergen, ist es nötig alle acht Jahre ein vollkommen neues Leben zu beginnen.

"Mir kam der Gedanke, dass die Menschen deswegen nicht älter als hundert wurden, weil sie es einfach nicht länger aushielten. Seelisch, meine ich. Irgendwann ging einem schlicht die Puste aus. Da war nicht genug Ich, um weiterzumachen. Die eigenen Gedanken liefen sich tot. Das Leben, das sich stets wiederholte, wurde öde. Irgendwann kam kein Lächeln mehr, keine Geste, die man noch nicht gesehen hatte. Keine Veränderung in der Weltordnung, die nicht das Echo einer anderen Veränderung war. Es gab keine Neuigkeiten, die neu waren. Schon das Wort "neu" war blanke Ironie. Alles drehte sich im Kreis. In einer langsamen Abwärtsspirale. Und die Toleranz für die Menschen, die immer und immer und IMMER wieder die gleichen Fehler machten, schwand mit der Zeit. Es war wie ein nervtötender Ohrwurm, ein Lied, dessen Refrain man einst gemocht hatte, doch jetzt würde man sich am liebsten die Ohren abreißen, um es nicht mehr hören zu müssen." [S. 43]

Als die Gesellschaft ihm, auf sein Bitten hin, ermöglicht als Geschichtslehrer zu arbeiten, löst das schon bald eine Flut an schmerzhaften, von Verlust und Einsamkeit geprägten, Erinnerungen in ihm aus: seine tragische Kindheit, die elisabethanische Ära in England, die Expedition von Captain Cook in die Südsee, die Literaten und Jazzmusiker im Paris der zwanziger Jahre und vor allen Dingen Rose; immer wieder Rose, deren Verlust er nie verwunden hat.
Doch als eines Tages Camille in sein Leben tritt, wirkt das wie ein Weckruf und plötzlich steht er vor der schwersten Wahl seit Langem, denn zu große Nähe zu anderen Menschen kann lebensgefährlich sein.

Meine Meinung:
Vorneweg, ich halte Matt Haig für keinen großen Geschichtenerzähler. Mich hat weder die Handlung von "Ich und die Menschen" noch von "Wie man die Zeit anhält" besonders angesprochen; aber das hat mich glücklicherweise weder bei "Ich und die Menschen" noch bei diesem Buch hier gestört, denn die Handlung spielt meiner Meinung nach bei beiden Büchern eine eher untergeordnete Rolle. Sie dient lediglich als Instrument um Gedanken durchzuspielen, sich selbst Freude zu bereiten, Dinge ins richtige Licht zu rücken, Wahrheiten auszusprechen, auf Wesentliches hinzuweisen und Schmerz zu verarbeiten.

"Sie redet mit mir, als wären wir im gleichen Alter, und dafür liebe ich sie. Wenn ich mit ihr zusammen war, trat der Rest der Welt in den Hintergrund, und ich wurde ruhig. Sie war mein Gegengewicht. Sie schenkte mir Frieden, wenn ich sie nur ansah, und deswegen sah ich sie ständig an, immer zu lange, zu intensiv. Heutzutage kennen die Menschen solche Blicke nicht mehr." [S. 166]

In seiner Danksagung schreibt Matt Haig, dass "Wie man die Zeit anhält" zu schreiben, für ihn wie eine Therapiesitzung und eine Zeitreise in einem gewesen sei und das spürt man auf so gut wie jeder Seite.
Für mich ist er einer der wenigen Autoren, bei dem man zwischen den Zeilen eine besondere Triebkraft, oder besser gesagt eine gewisse Dringlichkeit herausliest, etwas Bestimmtes zu Papier zu bringen. Das liegt wahrscheinlich daran, dass er in seinen Geschichten viel Persönliches verarbeitet. Seine Bücher sind sein kreatives Ventil und ich habe beim Lesen oft das Gefühl, Matt Haig selbst, und nicht seinen Figuren näher gekommen zu sein.
Auf mich macht er den Eindruck eines scharfsinnigen Beobachters, eines Dichter, eines Denker und ich hoffe, dass er auch in Zukunft gut auf sich achtgibt, denn meistens sind es die Dichter und Denker die von den Tretmühlen des Lebens überrollt werden und was wäre die Welt blos ohne ihre Dichter und Denker.

"Aber Tatsache ist: Wir können die Zukunft nicht kennen. Wir sehen die Nachrichten und denken, alles geht den Bach runter. Aber wir können es nicht wissen. Das ist das Wesen der Zukunft. Wir kennen sie nicht. Irgendwann müssen wir uns damit abfinden. Wir müssen aufhören, nach vorn blättern zu wollen, und uns stattdessen auf die Seite konzentrieren, auf der wir gerade sind." [S. 373]

Sein Schreibstil strotzt vor Kreativität, tiefsinniger Schnörkel und poetischer Schleifen. Sowas mag nicht jeder, aber ich bin jemand, die bei Beschreibungen wie, "er fuhr sich über den Schnurrbart, wie um bei ihm Trost zu suchen", innerlich kleine Raketen abfeuert, weil man so etwas nicht alle Tage zu lesen bekommt.
Zugegeben, dass man bei diesem Buch als Leser/in selbst eine kleine Zeitreise unternimmt, ist ein hübsches "Schmankerl", aber das hat mich bei Weitem nicht so glücklich gemacht, wie die vielen kleinen und großen Lebensweisheiten, die überall eingebaut sind.
Es geht um das Leben ansich und um die Menschen um einen herum, denn im Grunde genommen ist das, was einem passiert, im Laufe der Zeit mit Sicherheit auch schon anderen passiert. Alles wiederholt sich, alles ist ein ständiger Kreislauf und von diesem Kreislauf handelt auch dieses Buch. Von den großen und kleinen Dingen des Lebens: von Kriegen, Krisen, von Schmerz, von Fehlern, von der Liebe, von Antworten, von Freude, von Verlust, dem Fortschritt, der Einsicht, der Enttäuschung, den Fragen, dem Auf, dem Ab, der Trauer, den Träumen, von dem Sinn hinter allem und dem Weg dorthin.

Fazit:
"Wie man die Zeit anhält" ist ein absolutes Wohlfühlbuch, was ich unglaublich gerne gelesen habe. Es ist eins dieser Bücher was angenehm nachklingt, einen bereichert, zu dem man immer wieder greifen und lange lange von zehren kann.

"Doch je länger man lebt, desto deutlicher erkennt man, dass nichts unverrückbar feststeht. Jeder Mensch wäre irgendwann ein Flüchtling, wenn er nur lange genug lebte. Jeder würde sehen, dass Nationalität auf lange Sicht wenig Bedeutung hat. Jeder würde erleben, dass sein Weltbild auf den Kopf gestellt und seine Überzeugungen widerlegt werden. Jeder würde begreifen, dass es nur eine Sache gibt, die den Menschen ausmacht, und das ist echte Menschlichkeit." [S. 60]

*An dieser Stelle ein ganz großes Dankeschön an Lovelybooks, die mir im Rahmen einer Leserunde, ein kostenloses Exemplar dieses Buches zur Verfügung gestellt haben.