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bücherfreund54 Avatar

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Das Buch „Wir hätten uns alles sagen können“ von Judith Hermann ist die Nachschrift der Frankfurter Poetikvorlesung aus dem Jahr 2022. Zu einer solchen Poetikvorlesung werden SchriftstellerInnen eingeladen, um der Zuhörerschaft einen Einblick in den künstlerischen Schaffensprozess zu gewähren. Da solche Schaffensprozesses sehr unterschiedlich sind, sind auch die Zugangsweisen der SchriftstellerInnen sehr unterschiedlich.
Judith Hermanns Zugang lässt sich vielleicht ganz gut an dem Buchtitel erläutern (zumindest so, wie ich ihn verstanden habe). „Wir hätten uns alles sagen können“ - dieser Satz bezieht sich auf eine Situation, in der die Ich-Erzählerin (der Begriff ist problematisch für das Buch)fast 48 Stunden mit ihrem Mann?Freund?Vater ihres Kindes? in einem Museum eingeschlossen worden wäre. Sie hätten diese Zeit dazu nutzen können, sich „alles“ zu sagen, also auch die persönlichsten Dinge, Geheimnisse, Obsessionen. Doch es kommt nicht dazu, dass sie eingeschlossen werden und sie werden sich eben nicht alles erzählen. Damit ist ein zentrales Thema der Vorlesung angesprochen, das Verhältnis von erzählen und verschweigen.
Judith Hermann gibt in der Vorlesung viel Privates preis, etwa über die Lebensverhältnisse ihrer Eltern, ihre Beziehung zu einem verstorbenen Freund und anderes. Aber sie betont, dass alles das, was sie beschreibt, eben nicht Gegenstand ihres Schreibens wird. Und sie verschweigt vieles. Seltsam distanziert bleibt die Darstellung des Verhältnisses zu ihrem Kind, das auch nur „das Kind“ genannt wird und von dem Leser nicht einmal weiß, ob es ein Mädchen oder ein Junge ist. Zu privat? Zu nahe an ihrer Wirklichkeit, zu wenig Distanz zu der Person des Kindes - man weiß es nicht.
Sehr berührend dagegen die Darstellung der Lebensverhältnisse ihrer Eltern, die als letzte Mieter in einem Wohnblock leben, dessen Eigentümer nur darauf wartet, ihn abreißen zu können. Natürlich ließe sich daraus eine Erzählung machen, aber sie würde wohl kaum dem Erzählstil Judith Herrmanns gerecht werden - zu eindeutig, zu wenig rätselhaft, zu wenig, was sie verschweigen ließe und dem Leser/der Leserin anheim gegeben wird.
Judith Hermann stellt immer wieder Bezüge zu ihren Erzählungen und Romanen her. Und da liegt für mich ein Problem: Man muss die Werke kennen und vermutlich auch schätzen, um die Poetikvorlesung intensiver zu verstehen. Es ist also kein wirklich eigenständiges Werk. Aber das liegt eben auch an der Textart „Poetikvorlesung“.