Arm, evangelisch, geschieden ...

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kainundabel Avatar

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… so charakterisiert sich Anna, die vertretungsweise die Pfarrstelle in Alpen am Niederrhein übernimmt. Laut ihres Nachnamens von Betteray ist sie adliger Herkunft, wenn auch nur niederrheinischer Etagenadel. Aber „Wir sind schließlich wer“, und davon sind ihre Mutter und deren Vorzeigetochter und Annas Schwester Maria fest überzeugt. Letztere ist standesgemäß und offenbar erfolgreich unter die adlige Haube gekommen. Anna hält von diesem adligen Gedöns wenig. Sie hat trotz Adelstanzstunden und der Kennenlernaktion „Adel auf dem Radel“ der Verkupplung mit Graf Maximilian Konstantin Petrus Maria von Egmond zu Anholt widerstanden. Ihre bürgerliche Ehe ist in die Brüche gegangen, schlimmer noch, sie – aus erzkonservativem katholischem Elternhaus – ist konvertiert und evangelische Pfarrerin geworden. „Du bist die Kuh, die immer quer im Stall steht“ - Maria könnte es nicht treffender sagen. Und so trifft Anna in ihrer alten Heimat auf Argwohn und Widerstand. Da tröstet es auch nicht, wenn Tante Ottilie als pragmatische rheinische Frohnatur meint, die Leute würden sie mögen, hätten es aber selbst noch nicht gemerkt. Derweil funktioniert der dörfliche Flurfunk bestens, und Anna werden wahlweise diverse intime Verhältnisse angedichtet: mit dem bei Mutti wohnenden LKA-Beamten, dem Bestatter und mit Martinchen, dem eigentlich schwulen Postboten. Aber Homosexualität kennt man am Niederrhein nicht, Schwule gibt’s erst ab Duisburg.
Bis hierhin ist der Roman von Anne Gesthuysen höchst amüsant zu lesen. Die versammelten Charaktere, verschrobenen Traditionen, religiösen Attitüden (der Wallfahrtsort Kevelaer ist nicht weit entfernt) und kolportierten Anekdoten sind absolutes Lesevergnügen. Die Verhaftung des adligen Lebemanns und seines Zeichens Marias Göttergatten Gottfried von Moitzfeld und die augenscheinliche Entführung ihres elfjährigen Sohnes Sascha sind das Vehikel, um das Trugbild aus den Fugen geraten zu lassen und die brüchige, desolate Fassade des Standesdünkels einzureißen. Mir erscheint das aber gleichzeitig wie ein Bruch im bis dahin sehr gelungenen Erzählfluss und -stil. Irgendwie passt plötzlich eines nicht mehr so recht zum anderen. Zwar werden hier die Risse im Familienverbund und die Scheinheiligkeiten seziert, aber das eigenartige Verhalten, der Dilettantismus, das Tohuwabohu und die Ungereimtheiten bis hin zur Rettungsaktion auf dem Rhein sind für mich allzu unglaubwürdig und nicht nachvollziehbar. Da wird der Bogen der Fiktionalität doch über Gebühr überspannt. Auch wenn die Alpener angesichts der bedrohlichen Situation ungewohnten Zusammenhalt zeigen, vermisse ich die Schrulligkeit des ersten Teils des Romans, der jetzt eher in Richtung Slapstick und nicht ganz ernst zu nehmendem „Krimi“ abdriftet.