Sie waren dort (Vorsicht: Enthält Spoiler über das Ende)

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missdejavu Avatar

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„Und manchmal denke ich, wie das wohl wäre, wenn das jemand in hundert Jahren oder so liest. Und ich hoffe, dass dieser jemand glücklich ist und satt und sagt: „Da bin ich aber froh, dass die dunkle Zeit vorbei ist und alle Menschen frei sind und genug zu essen haben.“ Aber vielleicht ist in hundert Jahren auch überhaupt niemand mehr auf dieser Welt.“ Der Jugendroman „Wir waren hier“ von Nana Rademacher, veröffentlicht im Februar 2016 behandelt die Liebesgeschichte zweier Jugendlicher innerhalb einer dystopischen Rahmenhandlung. Anna, die zu Beginn des Romans noch 15 jährige Protagonistin, lebt mit ihrer Familie im Berlin des Jahres 2039, in einem Deutschland, welches vom Krieg zerstört ist. In einer grausigen Zeit, in der die Bevölkerung an Hunger, Kälte und Hitze, sowie der Unterdrückung der diktatorischen Militärregierung leidet, sucht Anna eine Ablenkung in ihrem Tagebuch, welches sie als Blogeinträge in ein längst nicht mehr legales Netzwerk online stellt. So lernt sie Ben kennen, einen Jungen, der sie eines Tages einfach anschreibt. Bald schon treffen sich die beiden und es entsteht eine große Liebe, die letztendlich den vielen Tragödien, Trennungen und Lügen und dem Kampf um das Leben und gegen die Unterdrückung standhält. Die Autorin startet die Geschichte in Form der Blogeinträge, wechselt nach einiger Zeit jedoch in eine normale Erzählform, was gut ausbalanciert ist und dem Ganzen zusammen mit einem sehr lockeren - einem Jugendroman angemessenen - Stil einen interessanten, teilweise fast schon poetischen Touch gibt. Der angepasste Schreibstil der Autorin hat mir persönlich zwar sehr gut gefallen, allerdings fehlte manchmal eine tiefere Beschreibung der Gefühle. Gerade in sehr emotionalen Szenen wirkt die Protagonistin hin und wieder etwas flach und nicht greifbar und oft wünscht man sich noch mehr zu erfahren, was in Annas Kopf und Herzen vor sich geht. Auch fehlt mir ein wenig die Entwicklung. Eine Jugendliche, die so viele Extrem-Erfahrungen macht, sollte über eine Zeitspanne von mehreren Monaten doch eine deutliche Veränderung zeigen, doch auf mich wirkt es als wäre Anna zwar ein bisschen abgehärteter, aber gleichzeitig auch oft naiver geworden, gerade gegen Ende der Geschichte. Eventuell ist es einfach die Erfahrung der ersten Liebe, welche Anna erfährt, doch das lässt sie für mich ein deutliches Stück vom Leser wegrücken. Und eine Protagonistin mit der man sich als Leser nur ab und zu identifizieren kann, kratzt natürlich an der Qualität des Romans. Nichtsdestotrotz ist die Geschichte sehr spannend aufgebaut; die Handlung verweilt nicht zu lange an einer Stelle, sondern es geschehen ständig neue Ereignisse, die Annas und Bens Geschichte in eine andere Richtung lenken. Völlig gnadenlos wird der Leser mit in all die Situationen geworfen, die man sich schlimmer kaum vorstellen könnte. Wodurch meiner Meinung nach die Hauptspannung erzeugt wird, ist allerdings Ben, denn erst nach und nach werden seine Lügen aufgedeckt und sein Charakter hat immer wieder einen Haupteinfluss auf den Verlauf der Geschichte. Ein wenig negative Kritik bei dem eigentlich guten Roman hat leider auch die Hintergrundgeschichte verdient. Klar ist es in einem Jugendroman von solcher Länge schwer eine detaillierte Erklärung dafür zu geben, wie es zu einer solchen Situation gekommen ist, gerade so, dass es auch nicht allzu sehr an der Leichtigkeit des Erzählstils kratzt, doch für mich sind einfach zu viele Fragen offen geblieben. Sowohl Fragen zur Entstehung der Situation: Was war letztendlich der Auslöser des Krieges (also was war der Tropfen, der das Fass zum überlaufen gebracht hatte)? Wann hat der eigentliche Krieg an sich wieder geendet? Und wie sieht der Rest der Welt aus? Aber es bleiben auch viele Fragen zur Handlung jetzt offen: Wie funktioniert die Versorgung? Was ist vom technischen Fortschritt übrig geblieben? Und wie erklären sich die sonst scheinbar guten gesundheitlichen Zustände, wenn die Felder und alles doch so stark von einer nuklearen Katastrophe verseucht sind? Die größte Kritik von mir verdient allerdings der Punkt mit der Schwangerschaft, den ich genau deswegen auch trotz des Spoilers nicht außer Acht lassen kann. Diese finde ich völlig fehl am Platz. Wobei es mir aber weniger um die Schwangerschaft an sich geht, sondern darum, wie die Autorin das Thema in die Geschichte mit einbaut. Man erhält im letzten Viertel des Buches kleine Hinweise, und dann im Ausblick in die Zukunft ist auf einmal noch ein Kind da. Auf mich wirkt es sehr hineingequetscht. Die Länge des Romans reicht bei weitem nicht aus um ein solches Thema unter zu bringen, dadurch entsteht der Eindruck als passiere eine Schwangerschaft und Geburt einfach so nebenbei, was gerade in einer solchen Zeit beinahe unmöglich sein dürfte. (Wie konnte ihr Körper überhaupt in der Lage sein ein Kind zu bekommen und wenn er es war, warum hat Anna offensichtlich nicht daran gedacht?) Insgesamt muss man allerdings sagen, dass „Wir waren hier“ trotz der vielen Kritikpunkte ein gelungener Jugendroman ist, der ein düsteres, aber interessantes Thema in einer spannenden Story verpackt. Und trotz des teilweise etwas ungenutzten Potentials unterhält das Buch durchgehend und regt auch am Ende noch zum Nachdenken an. Das Cover trifft zumindest bei meinem Geschmack voll ins Schwarze – ein künstlerischer Blickfang. (4 Sterne, da ich mich nicht zwischen drei und vier entscheiden konnte)