Mit offenen Augen durchs Leben gehen

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elke seifried Avatar

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Frank Maria Reifenberg hat mich schon mit etlichen Kinder- und Jugendbüchern überzeugt, deshalb war ich sehr gespannt auf seinen Briefroman um die Widerstandsgruppe der Edelweißpiraten.

„Wenn man den Leuten alles wegnimmt, was sie besaßen, dann sollen sie nie mehr wiederkommen, das kapiert doch jeder. Und scheinbar juckt es keinen, dass diese Leute auf Nimmerwiedersehen verschwinden. Verschwinden sollen sie und jeder, der auch nur einen Küchenschrank von ihnen genommen hat, WILL die Leute auch nicht wiedersehen.“

Das sind die Worte der 16-jährigen Lene Meister, die in Köln das Jahr 1942 erlebt, das von zahlreichen Bombenangriffen gekennzeichnet ist. Der Autor lässt sie Briefe über ihrer Gefühle, ihre Erfahrungen und ihre Erlebnisse, verfassen, auf die sie natürlich auch Antworten erhält. Durch den Inhalt der Briefe zeigt der Autor den Schrecken der Nazizeit und stellt gekonnt auch die verschiedenen Charaktere vor, die in der damaligen Zeit unter den Jugendlichen und jungen Menschen vertreten waren. Bei diejenigen angefangen, die den Mund aufgemacht haben, wie ein Erich und seine Freunde, über jene, denen es nicht gefallen, die sich aber geduckt, angepasst haben und auf eine besser Zukunft gewartet haben, wie ihre Freundin Rosi, solche, die völlig im Regime aufgegangen sind, wie Lenes kleinen Bruder Kalli und, im Gegensatz dazu, solchen, die daran zerbrochen sind, bis hin zu und denen, die direkt an der Front täglich dem Tod vor Augen haben mussten, wie Lenes älteren Bruder Erich, ist ihm ein toller Querschnitt gelungen.

Lene schreibt mit ihrer besten Freundin Rosemarie hin und her, die mit deren Mutter und dem kleinen Bruder nach Detmold aufs Land gezogen ist. Ihr vertraut sie so gut wie alle Geheimnisse an, ihre Gefühle für Erich, auch ihre Erlebnisse mit den Edelweißpiraten, wie sie nach und nach herausbekommt, was diese unternehmen und auch was die Gestapo, die sie im Auge hat, reagiert. In den Briefen zu Röschen finden sich auch die schockierendsten Informationen zur Lage in Köln nach den Bombenangriffen. Rosemarie, lebt auf dem Land, später in Schlesien, wo sie von Bombenangriffen verschont und auch die Versorgungslage noch besser ist.
„Der Kalli ist doch ein schlauer Bursche. Deshalb wundert es mich, dass er nicht sein Köpfchen einschaltet, bevor er manche Sachen nachplappert.“ Auch zwischen ihm und Lene finden sich einige Briefe, oft aber beklagt sie sich in Briefen an andere über dessen Entwicklung. Besonders schockierend empfand ich z.B. die Worte über den gemeinsamen Cousin aus seinem Mund. „Der Willi wäre Zahlreiche Briefe wechseln auch zwischen ihr und ihrem Bruder Erich an der Ostfront. Diese sind gekennzeichnet durch die gegenseitige Sorge umeinander, das Zurückhalten der schlimmsten Nachrichten, um nicht noch mehr Kummer bereiten zu müssen. Aber ab und an müssen die schlimmsten Erfahrungen einfach von der Seele geschrieben werden. „Riesige Löcher haben sie gegraben, eines halb so groß wie der Neumarkt und bis zum Rand hin voller Menschen. […] Alle tot, dachte ich, dann sah ich, dass sich einige noch regten, aber sie haben die Gruben einfach zugeschüttet. …egal ob noch welche geschrien haben, […] Juden und Russen – Lenchen - sie haben sie alle totgeschossen. Zivilisten., Frauen Kinder auch.“, oder „verkohlte und zertrümmerte Kinder – mit der kleinen Else hat unsere Toni den Tag vorher noch gespielt.“ Es sind Worte wie diese, die einen tief betroffen lesen lassen, die einen ans Buch fesseln.
Ganz klar sind auch ein paar Liebesbriefe zwischen ihr und Erich zu finden.

Man erfährt von den vielen Toten, die bei Bombenangriffen oder an der Front sterben, von schockierenden Dingen, wie „Kameraden, die sich beim Reinigen der Waffe ganz aus Versehen irgendwohin schießen.“, und für die dann gilt, „Der Lohn ist nicht die Heimat sondern der Tod. Selbstverstümmelungen sind Wehrkraftzersetzung.“ oder auch Vernehmungen und Misshandlungen durch die Gestapo. Aber ebenso solch interessante Dinge wie, „Franz hat mir übrigens eine selbst aufgenommene Schallplatte geschickt, das ist ein Spaß: eine sprechende Feldpost“, sind zu finden. Ab und an darf man sogar schmunzeln, wenn es z.B. heißt „Ich weiß, dass ich niemals in meinem ganzen Leben ein solch unbequemes Ding tragen werde, egal wohin die Speckrollen auf den Hüften auch quellen.“, wenn Rosi für Lene ein Mieder für deren Oma besorgen muss. Der Autor schafft mit einem leicht verständlichen Sprachstil ein wirklich ein gutes Bild von der Zeit und den Aktivitäten der Gruppe von Edelweißpiraten zu vermitteln.

„Wir laden schwere Schuld auf uns, wenn wir nicht mit offenem Auge durch die Welt gehen und auch verkünden, was wir sehen. Und dass es so nicht weitergeht, das müssen wir auch sagen. Eines Tages wird bestimmt jemand fragen, was du und ich und der Erich und all die andren getan haben, als wir gesehen haben, was sie mit den Menschen anstellen.“ Lene hat dies erkannt, ging mit offenen Augen durch die Welt, hat als Jugendliche nicht alles ohne Widerrede hingenommen. Diese Entwicklung wird in dem Jahr, das man sie begleiten darf klar, deutlich. Ich denke es ist unheimlich wichtig, dass sie möglichst viele mit dem Thema beschäftigen. Einerseits damit die schrecklichen Verbrechen nie in Vergessenheit geraten und andererseits um eine solche Betroffenheit zu schaffen, dass Warnzeichen nie mehr übersehen werden können. Gerade in unserer heutigen Zeit, in der rechtsradikale Gruppen erstarken, eine immens wichtige Aufgabe, der sich der Autor hier toll gestellt hat. Ich bin sehr interessiert, verschlinge Romane und Sachbücher aus dieser Zeit und bin hier bei diesem Buch auch an den Seiten geklebt, habe die persönlichen Erlebnisse, die ganz viele Details bereithalten, verschlungen.
Bisher alles gelobt, warum dann aber nur vier statt fünf Sterne?
Die Briefe berühren, die erzählten Erlebnisse und Erfahrungen schockieren und machen betroffen, gar keine Frage. Ich denke aber, ein gewisses Grundinteresse muss bei jugendlichen Lesern vorhanden sein, denn meinem Erachten nach, gibt es hinter den Schilderungen keine Hintergrundgeschichte, die einen völlig ans Buch fesselt, für mich war es auch nicht so, dass ich bei der Liebe um Erich und Lene ganz besonders mitfiebert hätte, wie man das bei so manchem historischen Roman kann, und damit Geschichte lernen zum Vergnügen nebenbei macht. Hier muss man zumindest weite Teile über aus Betroffenheit und Neugier am Ball bleiben. Stellenweise werden auch Nebensächlichkeiten erzählt, wie z.B. ein Aufzählen von Namen, die bei Bombenangriffen gefallen sind, die dem Leser nichts sagen, nur durch die große Anzahl betroffen machen, was vielleicht Längen erzeugen kann. Auch werden gleiche Erlebnisse, je nach Adressat der Briefe ähnlich noch einmal wiederholt, hier gilt es am Ball zu bleiben.

Für mich als interessierte Erwachsene wären es sicher noch fünf Sterne geworden, aber ich denke für so manchen Jugendlichen fehlt das Packende, das das Buch verschlingen lässt, das zum Lesen motiviert, weshalb ich fünf für ein Jugendbuch nicht mehr vergeben kann.