Mutig, traurig, lesenswert

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Ein mutiges Buch. Der Autor schreibt ohne jegliche Rührseligkeit darüber, Vater zweier geistig und körperlich behinderter Kinder zu sein – kurz und prägnant in Texten, die mal eine Episode mit dem Kind, mal die Gedankenwelt des Autors beschreiben. Sicherlich kein neues Thema, aber eine neue Herangehensweise. Hier beschreibt ein Betroffener ohne sozial erwünschtes Verhalten, wie es ihm mit dieser unfreiwilligen Rolle ergeht. Und die negativen Gefühle überwiegen: Die freudige Erwartung auf das erste Kind, der Traum vom Wunder des Lebens und den ganz großen sentimentalen Gefühlen platzen wie eine Seifenblase. Und das nicht nur beim ersten Kind, auch der zweite Sohn kommt behindert zur Welt – der „Weltuntergang Nummer zwei“. Offen und oft zynisch beschreibt der Autor Angst, Wut, maßlose Enttäuschung, Neid auf diejenigen Eltern, deren Kinder prächtig gedeihen und sich rasant entwickeln. Aber auch von den Schuldgefühlen und dem schlechten Gewissen, von den Kindern selbst genervt und enttäuscht zu sein, kein guter Vater zu sein, ja, den Kindern durch den Zeugungsakt dieses „furchtbare Leben“ erst angetan zu haben, schreibt Fournier.
Das Buch ist mit sehr viel Galgenhumor geschrieben; so muss der älteste Sohn zum Beispiel gar nicht erst fernsehen – er habe es „auch so zum geistig Behinderten gebracht“. Diesen Stil empfand ich zum Teil als zu hart, man zuckt im ersten Moment zusammen - so kann man doch nicht über das arme Kind reden, denkt man sich. Dann dachte ich aber: Wer, außer den Betroffenen, kann sich schon vorstellen, wie hart das wirklich sein muss, schwerbehinderte Kinder zu haben? Wer sich dazu entschließt, Vater oder Mutter zu werden, kommt an einem Wechselbad der Gefühle zwischen großen Hoffnungen und Stolz, aber auch ebenso großen Befürchtungen und Sorgen nicht vorbei. Schon ein gesundes Kind ist oft mit mehr Arbeit verbunden, als man sich das in der romantisch-verklärten Schwangerschaftszeit vorzustellen vermochte. Auch auf ein „normales“ Kind reagiert man manchmal gar nicht so, wie tradierte Rollenbilder dies vorschreiben. Man spricht es vielleicht nicht offen aus, aber welche Mutter und welcher Vater hat noch nicht irgendwann einmal gedacht, dass Kind im übertragenen Sinne (und manchmal leider auch im wahrsten Sinne des Wortes) aus dem Fenster zu werfen? Die Belastungen sind enorm, aber – und das ist wohl, neben dem rein evolutionären Fortpflanzungsstreben, auch der Grund, warum wir dann doch freiwillig Kinder in die Welt setzen – man bekommt auch viel zurück. Die Bindung des Kindes an die Eltern, das Beobachten der Entwicklung des eben noch hilflosen Säuglings in einen „fertigen Menschen“ ist eine große Stütze. Aber wie würden wir reagieren, wenn genau dieser Aspekt wegfällt?
Eltern eines behinderten Kindes können ihr bisher gelebtes Leben in aller Regel so nicht mehr aufrecht erhalten. Mehr noch und vor allen Dingen länger als bei gesunden Kindern dreht sich alles um den Neuankömmling. Der Plan, nach einem Jahr Elternzeit wieder in den Beruf zurückzukehren, schwindet in unerreichbare Ferne. Die Vorstellung, das Familienalbum nach und nach mit Fotos von den ersten Schritten, der Einschulung, schließlich sogar den eigenen Enkeln zu füllen oder mit unverhohlenem Besitzerstolz den Verwandten, Freunden und Nachbarn zu berichten, das Kind habe nach erfolgreichem Schulabschluss nun eine Lehre oder ein Studium begonnen, all das wird nie stattfinden. Schlimmer noch, schwerbehinderte Kinder versterben oft früh, die Eltern müssen also zusätzlich realisieren, dass sie ihr Kind überleben werden. Und empfinden dabei vielleicht sogar Erleichterung, nicht ohne sich dafür in Grund und Boden zu schämen.
Ich kann dieses Buch trotz allem Zynismus nur empfehlen. Gerade auch für Betroffene: Ihr seid nicht alleine mit den vielen negativen Gedanken und ihr solltet euch dafür auch nicht schämen müssen. Was euch passiert ist, ist ein schwerer Schicksalsschlag und alles Schöngerede hilft da nichts. Sicher können viele behinderte Kinder ein glückliches Leben führen, man darf aber nie vergessen, was für einen enormen Kraftakt dies seitens der Eltern voraussetzt. Und das erfordert Respekt, gerade auch, wenn jemand den Mut hat zuzugeben, dass dies eben auch von heftigen negativen Gefühlen und permanenter Überforderung begleitet ist.