Erschütternd und grenzwertig

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chaosbaerchen Avatar

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Zunächst einmal möchte ich vorweg schieben, dass ich, bevor ich überhaupt das Buch angefangen habe zu lesen, schon ein bisschen enttäuscht war, als ich sah, wie verschwenderisch das Buch geschrieben ist. Von den 151 Seiten (Seite 5 bis 156) bleiben etwa 78 Seiten übrig, wenn man sich die ganzen leeren Halbseiten wegdenkt, sprich gerade mal die Hälfte. Entsprechend schnell hat man das Buch durchgelesen.

Nun aber zum Inhalt:

In "Wo fahren wir hin Papa?" beschreibt Jean-Louis Fournier sein Leben als Vater von zwei schwer behinderten Kindern. Bei Mathieu und auch bei dem zwei Jahre jüngeren Bruder Thomas ist die Retardierung sowohl körperlich als auch geistig so schlimm, dass sie dazu verdammt sind, ihr ganzes Leben lang auf dem Niveau eines Kleinkindes zu bleiben - sofern der Tod sie nicht erlöst, wie es bei Mathieu unmittelbar nach einer Wirbelsäulen-Operation der Fall ist. Nach Thomas bekommen die Eltern noch ein drittes Kind, ein gesundes Mädchen. Dennoch ist die Verbitterung und Enttäuschung über die beiden behinderten Söhne so groß, dass eine Trennung von der Mutter der Kinder unausweichlich ist. Die beiden Jungen wachsen in Heimen auf, Thomas kommt als Erwachsener in eine betreute Wohngemeinschaft. Die Geschichte endet, als er um die 30 Jahre alt ist.

Der Titel bezieht sich übrigens auf einen Satz, den Thomas, seit er 10 Jahre alt ist, stereotyp in einer Endlosschleife wiederholt, sobald er mit seinem Vater im Auto sitzt bzw. später auch situationsunabhängig. Letztlich interessiert ihn die Antwort seines Vaters gar nicht, weil er sie weder auffassen noch verarbeiten kann - dennoch ist es für ihn eine Art der Kommunikation.

Das Buch trieft nur so von negativen Emotionen, die dem Leser wie stetige Wellen entgegenkommen und ihn  unweigerlich überrollen. Man ist hin und hergerissen zwischen Mitleid und Wut, Trauer und Unverständnis. Das Buch ist sehr offen und ehrlich geschrieben, aber an manchen Stellen vielleicht auch zu ehrlich. Es wird ausgesprochen, was vielleicht nur gedacht werden sollte. Ich finde es erschütternd, dass es überhaupt möglich ist, dass ein Vater seine eigenen Kinder auf ihre Behinderung reduziert.

Es ist selbstverständlich ein schweres Los, zwei behinderte Kinder in die Welt gesetzt zu haben, und vor über 30 Jahren war die Pränataldiagnostik einfach noch nicht so weit wie heute. Man kannte weder die Amniozentese (Fruchtwasserpunktion) noch das Ersttrimester-Screening, geschweige denn genetische Tests zur vorgeburtlichen Diagnose von Abweichungen.

Die Schuldgefühle des Vaters, die wiederholt zum Ausdruck gebracht werden, finde ich persönlich völlig unangebracht. Wenn nicht vor drei Jahrzehnten, so weiß man doch spätestens heute, dass ein behindertes Kind keine unerklärbare Strafe Gottes ist.

Darüber hinaus wird auch nicht klar, inwiefern das Leben des Vaters tatsächlich durch die beiden behinderten und im Heim untergebrachten Kinder geprägt wurde bzw. werden musste. Was ist mit der gesunden Tochter, die bei der Mutter aufwächst? Wie ist es für sie mit einem Vater, dessen Gedanken ausschließlich um seine "missratenen" Söhne kreisen, und dessen Schuldgefühle und Enttäuschungen ihn von innen heraus auffressen? Was ist mit der Mutter?

Der Schreibstil und die Struktur wirken ungeordnet. Es gibt keine klaren Sinnabschnitte und Kapitel, statt dessen nur durch halbe leere Seiten getrennte jeweils höchstens zwei Seiten lange Abschnitte, zum Teil ohne direkten Bezug zueinander. Es ist auch nicht immer leicht, den Gedankensprüngen zu folgen und klare Informationen aus dem Geschriebenen herauszufiltern.

Es bleiben viele Fragen offen, und ich bezweifle, dass der Autor mit diesem Buch seine inneren Konflikte lösen konnte, auch wenn es sicher entlastend war, sie auf Papier zu bringen.