Schonungslos und aufwühlend

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smilingkatinka Avatar

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156 Seiten, teilweise nur halb beschrieben, sehr kurze Kapitel. " Wo fahren wir hin, Papa?" von Jean-Louis Fournier ist schnell gelesen. Das Leben seiner beiden behinderten Jungs ist schnell erzählt. Die Kürze der Kapitel weist wohl auch auf die Kürze der Erlebnisse hin. Für Mathieu und Thomas bestand das Leben nicht aus planbaren Erlebnissen, nein, es bestand aus kurzen Anekdoten, aus kleinen Kapiteln, die sich auf nicht mehr als zwei Seiten nacherzählen lassen.

Dieses Buch ist Fourniers Geschenk an seine beiden behinderten Jungs. Nur einmal möchte er ihnen ein Buch schenken, oder eher widmen, in dem er mit einem Lächeln über sie erzählt. Das Buch fängt mit einem Brief an seine Söhne an, einem Brief, den weder Thomas noch Mathieu lesen werden, da Thomas nicht lesen kann und Mathieu bereits tot ist, oder, in Fourniers Worten, den Ball an einen Ort geschleudert hat, wo ihm die Eltern nicht mehr helfen können, ihn zu suchen. Bereits in diesem Brief wird klar, dass sich der Autor große Vorwürfe macht. Sei es, dass er gleich zwei behinderte Kinder hat oder, dass er keine Engelsgeduld mit ihnen hat und ihm die Situation oft über den Kopf wächst.

Fourniers Ton bleibt das ganze Buch über sarkastisch. Man spürt deutlich, dass ihm seine Söhne viel bedeuten, er aber einfach nicht mit der Situation zurechtkommt und sich hinter Galgenhumor versteckt. Er liebt seine Söhne. Wie gerne würde er sie im Berufsleben sehen. Thomas versucht an einer Stelle des Buches seinen Kopf durch ein Loch des Pullis zu stoßen. Die Eltern helfen ihm nicht, sondern schauen ihm dabei zu und lachen. Sie lachen ihn nicht aus, sie lachen über die Situation. Durch ihr Lachen machen sie ihren Sohn glücklich. Diese Szene steckt in meinen Augen voller Liebe.  Nur allzu oft kommen ihm aber auch Mordgedanken. Wie z.B als Mathieu sich nachts, wie so oft, für ein Auto hält und mit seinem Brmm brmm den Vater nicht schlafen lässt. "Ich kann nicht schlafen, muss morgen früh raus. Immer wieder kommen mir schreckliche Gedanken, ich hätte Lust, ihn aus dem Fenster zu werfen, aber das brächte auch nichts, wir wohnen im Erdgeschoss, man würde ihn weiterhin hören." Oder, recht am Anfang des Buches, als Thomas seine Lieblingsfrage in Endlosschleife stellt: Wo fahren wir hin, Papa? :" Wir fahren auf die Autobahn, wir spielen Geisterfahrer. Wir fahren nach Alaska. wir streicheln die Bären. Und lassen uns fressen. (...) Wir fahren in die Hölle.

Die Hölle. So erscheint ihm sein Leben und doch gehört er materiell zu den Priviligierten, kann sich teure Autos, Hausmädchen und Heimaufenthalte für die Kinder leisten. Wie wäre seine Situation, wenn er diese Privilegien nicht genießen dürfte? Würde seine Liebe zu seinen Söhnen dennoch so groß sein oder wäre er heillos überfordert?

Was mir in dem Buch etwas fehlt, ist die Mutter und die kleine Schwester. Natürlich möchte Fournier über seine beiden behinderten Söhne schreiben, doch erwähnt er sehr oft, wie es ihm geht und vergisst, dass seine Frau ja auch zwei behinderte Kinder bekommen hat. Gerne hätte ich mehr über sie erfahren und wie sie mit der Situation umgeht. Das dritte Kind der Fourniers ist ein gesundes Mädchen. Man erfährt nur wenig von ihr. Nur, dass etwas schlimmes passiert. Was passiert, wird nie aufgeklärt. Wie erleben Mathieu und Thomas die gesunde kleine Schwester? Wie geht Marie damit um, reifer zu sein, als ihre beiden Brüder, zwei behinderte Brüder zu haben. Sie muss sicher oft zurückstecken. Wie ist es, wenn die Behinderung scheinbar nur das männliche Geschlecht betrifft?

Die Beziehung zu seiner Frau ist zerbrochen, was mit seiner Tochter ist, weiß man nicht, und doch gehören sie zur Familie. Sie werden weniger erwähnt, als die Haushälterin, haben aber meiner Meinung nach einen wichtigen Platz in dem Buch über Mathieu und Thomas verdient.

Das Buch ist schonungslos offen und ruft beim Leser eine ganze Bandbreite von Emotionen auf. Es ist mutig, ein so sarkastisches Buch über dieses sensible Thema zu schreiben und allein dafür verdient der Autor meine Hochachtung. Wirklich urteilen kann und möchte ich über dieses Buch nicht. Das kann wohl nur jemand, der selbst mit Behinderungen in der Familie zu tun hat. Ich kann nur sagen, dass dieses Buch mir noch lange im Gedächtnis bleiben wird.