siebzig Entschuldigungen suchen, bevor man ein einziges Urteil fällt

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Leerer Stern
elke seifried Avatar

Von

„Du hast dir deinen Mann selbst ausgesucht. Er ist kein Schiit. Bitte tu uns den Gefallen und verhalte dich so, dass es nicht so wie eine Liebesheirat aussieht“, das ist Mutter Leilas Bitte am Tag der Hochzeit ihrer Tochter Hadia. Immer hat sie alles getan, damit ihre Eltern stolz auf sie waren, immer um deren Anerkennung gekämpft. Dass sie am heutigen Tag Tarik heiraten wird, macht sie glücklich. Sie hat es als Ärztin mit einem Mann, den sie liebt und selbst gewählt hat, für ein Mädchen, eine Frau in ihrer muslimisch, schiitischen Familie, bei der Traditionen so viel zählen, unheimlich weit gebracht. Bruder Amar hingegen hat seine privilegierte Stellung als Sohn wohl verspielt. Seit drei Jahren hat er keinerlei Kontakt zur Familie. Für Hadias perfektes Glück zählt aber, dass auch ihr Bruder Amar den Hochzeitstag mit ihr verbringt und tatsächlich folgt der ihrer Einladung. Was wird aus der Familie werden?

Die Autorin gliedert ihre Geschichte in vier Teile. Im ersten bekommt man am Tag der Hochzeit von Haida einen kleinen Einblick in die Familie, bemerkt die Spannungen die herrschen, Freude und Skepsis, wie das Wiedersehen verlaufen wird und nach einem Zusammentreffen von Amat mit Amira, dem Mädchen in das er in seiner Jugendzeit so sehr verliebt war, verlässt man den Schauplatz wieder. Dann geht es in einem zweiten Teil erst einmal mithilfe von Rückblenden, die nicht chronologisch geordnet sind, zurück in die Vergangenheit. Man erfährt als Leser hier von unzähligen Familienerlebnissen. Unter anderem davon, wie Mutter Leila damals mit der guten Partie Rafik verheiratet wurde, wie Haida stets versuchte ihren Eltern zu gefallen, wie sie von diesen beeinflusst wurde, dass sie aus angeblich freier Entscheidung den Hijab trägt, auch wenn sie damit die einzige in ihrer Grundschule ist, wie ihr Vater ihr die Last der Verantwortung für die jüngeren Geschwister auferlegt, davon, wie auffällig sich Amir verhält, von seinen Wutanfällen, davon wie sehr ihn seine Mutter immer in Schutz nimmt, davon wie er sich in Amira, die Schwester von Abbas, seinem großem Freund, verliebt, wie die beiden sich heimlich treffen und vieles mehr, bis hin zu dem Punkt, an dem er die Familie verlässt. In einem dritten Teil darf man dann wieder auf der Hochzeit weilen, erfährt davon wie die Hochzeitsfeier vonstattengeht und darf gebannt mitverfolgen, ob die Familie denn jetzt wieder zusammenfinden wird. In einem vierten und letzten Teil kommt Vater Rafik und sein Blick auf die Familiengeschichte zum Zuge, der noch einmal das gewonnene Bild von der Familie in ein völlig anderes Licht rückt.

Sehr gut hat mir gefallen, dass man einen tollen Einblick in die Familienstruktur einer traditionellen schiitisch, muslimischen Familie erhält, Bräuche, Sitten, Rituale und Einstellungen, davon hatte ich bisher nur wenig Ahnung. Leila, ihre Halt im Glauben, ihre Unbeholfenheit ohne Rafik in der Öffentlichkeit, die Rolle der Frau, die ihrem Mann stets loyal zur Seite stehen muss, die Bedeutung der Meinung der anderen, die Familienehre, die Vorstellungen von Sünde, Gut und Böse, das fand ich super interessant. „So etwas wie Freunde gibt es nicht, es gibt nur Familie und die Familie lässt euch nicht im Stich.“. Ganz besonders wie sehr die Kinder eingeengt werden, weil die Eltern so an der Tradition festhalten, selbst dann, wenn ihnen ihr Herz einen anderen Rat geben würde, hat mich wirklich tief bewegt.

Nicht Ausgesprochenes, unterdrückte Wünsche und Bedürfnisse, falsche Reaktionen, die nicht wieder aus der Welt geschafft werden können, das Beste wollen, ist nicht immer das Beste tun, das sind für mich die Kernprobleme der schwierigen Familienverhältnisse. Haida, die sich als Tochter durch Geburt benachteiligt fühlt, kämpft um eine gute Position, muss dafür viel zurückstecken. Amat, der sich stets im Schatten seiner erfolgreichen Schwester sieht, fühlt sich dadurch benachteiligt, und sein Motto scheint zu sein, Aufmerksamkeit, um welchen Preis auch immer. Zahlreiche kleine Szenen, die von diesen Enttäuschungen berichten, haben mich wirklich sehr gerührt und auch an das Buch gefesselt.

Ich musste mit der Geschichte erst ein wenig warm werden. Gleich zu Beginn werden zahlreiche traditionelle Begriffe verwendet. Klang der Shenai, Skaam, Ghoongat, Teekah, Nikah, usw. Da hätte ich mir Fußnoten oder ein Glossar dazu gewünscht. So war ich anfangs wirklich mehr am googeln, statt am Lesen, da ich nicht nur eine schwammige Vorstellung davon haben möchte, worüber ich lese. Gewöhnungsbedürftig war für mich auch, dass die Rückblenden nicht chronologisch erfolgen, einmal ist der beste Freund Amats schon tödlich verunglückt und beerdigt, einige Seiten weiter erfährt man davon, wie er Hadias Interesse auf sich gezogen hat. Einmal eine Freundschaft schon durch Druck der Eltern beendet, dann wieder gibt es doch noch ein heimliches Treffen, einmal wird Kleinkindern Geschichten von Propheten und Sünden erzählt, dann kehrt Haida wieder für ein Wochenende vom Studium heim. Auch wenn der Schreibstil, der mit vielen Bildern und Vergleichen arbeitet, wie z.B. „Wut stieg in ihm auf, wie heißer Dampf“ oder „klingt leuchtend wie Gold, wie die wirkliche Sonne, die ihre Tage beherrscht.“, geläufig und einfach zu lesen wäre, musste ich mich doch konzentrieren, damit ich die relativ schnellen Szenen- Ort und Zeitwechsel auch im Überblick behielt, aber auch da habe ich mich zunehmend daran gewöhnt. Durch die unterschiedlichen Perspektiven, mit denen im Verlauf der Geschichte auf die einzelnen Ereignisse, immer wieder zurück geblickt wird, erlebt man einiges auch mehrfach. Zumeist hat mir das gefallen, weil es einfach noch einmal ein ganz anderes Bild schafft, man Schuldzuweisungen, beim Lesen gefällte Meinungen noch einmal gänzlich neu überdenken muss, stellenweise war es für mich aber auch an der Grenze zu einer Länge.

Die Figurenzeichnung hat mir gut gefallen. Ich habe beim Lesen meine Sympathien ganz oft neu verteilt und gerührt hat mich sicher ein jeder, bei Haida angefangen, über Amat, Leila bis hin zu Rafik, die hier die Hauptrollen spielen. Aber auch Nebendarsteller, wie z.B. Amira, die für ein Mädchen viel Mut beweist, dann aber doch den Traditionen folgt oder deren Mutter Selma, der die Familienehre ebenfalls über alles geht, sind gelungen gezeichnet.

Ich habe lange zwischen vier und fünf Sternen geschwankt, weil mich die Geschichte wirklich sehr berührt hat und besonders nach dem vierten Teil habe ich eher zur vollen Punktzahl tendiert. a der Anfang allerdings etwas holprig war und ich nicht mit allem ganz glücklich war, genügt es insgesamt nicht mehr dafür. 4,5 wären ideal.