Verblassend verlassen und zerschundene Realität.

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danyo_dynamite Avatar

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"Michael Tsokos" prangt in grauen Buchstaben auf dem Cover und scheint farblich mit dem grauen Hintergrund eins zu werden, hebt sich aber dennoch ab. Darunter, angeschrägt und schon fast verblasst, liest man den blutroten Titel: Zerschunden. Die zusammengeflickte graue Naht führt den Leser in eine Welt, die dem Leser näher ist, als es ihm beliebt.

Ein unberechenbarer Serienkiller treibt sein Unwesen – europaweit. Alleinstehende Frauen sind die Objekte seiner Begierde, die er anschließend mit bestialischem Eifer foltert und „zerschindet“, indem er ihnen seine ganz persönliche Sieges-Signatur verpasst.
Schon der Prolog schmeißt den Leser in die zerschundene Realität, die ihn umgibt.
Eine junge Frau wird auf ihrem Fahrrad angefahren und von dem Mann verschleppt. Erschreckend intensiv bekommt der Leser Einblick in die Gedanken des Wahnsinnigen, denn dieser weiß genau, was er seinem Opfer gleich antun wird und fiebert dem in einer bizarren Ruhe entgegen.

Auch die darauffolgende Begebenheit, wo eine ältere Dame überfallen wird und sich der Räuber erbarmungslos an ihr zu schaffen macht, ist von einer ausschweifenden Detailflut und bestimmt den Ton des weiteren Handlungsverlaufes. Geschickt wird die Erzählung immer an essentiellen Punkten unterbrochen, um die Fantasie des Lesers dazu anzuregen, sich die grausamen Puzzlestücke zu einem noch viel schrecklicheren Gesamtbild zusammen zufügen, ohne ihm dabei „literarische Grenzen“ in den Weg zu setzen.

In knappen Kapiteln schwenkt die Sichtweise von dem Gerichtsmediziner Abel und dem gewissenlosen Täter hin und her und garantiert somit, dass keine langatmigen Pausen entstehen können. Der Spannungsbogen ist von Anfang an straff gespannt und lässt die Augen des Lesers gebannt über die bedruckten Seiten schweben, von denen keine enttäuscht. Michael Tsokos weiß wirklich, wie er schlaflose Nächte garantieren kann, denn bis zum Schluss hat man seine Verdächtigungen mehrmals verworfen und neubesetzt, nur um – ein paar Seiten weiter – zu erfahren, dass die Schlussfolgerung abermals Lücken aufweist. Der Autor hat ein wirklich fesselndes Erlebnis kreiert, indem er einen undurchschaubaren Handlungsstrang eröffnet und den Leser blind im Dunkeln tappen lässt, um am Ende die zerschundene, unverschönte Wahrheit präsentiert zu bekommen.

Der Protagonist, Gerichtsmediziner Abel, scheint sehr intelligent und bestimmt, aber in adäquaten Situationen auch empathisch und sensibel. Somit vereinen sich Charakterstränge in ihm, die ihn höchst sympathisch werden lassen, was natürlich die ganze verzwickte Situation in ein noch viel unangenehmeres Licht taucht: denn sein einzig wirklich nahestehender Freund ist – aufgrund Abels Haplotyp-Genanalyse, die Lars Moewig als Hauptverdächtigen auserkort, der sich daraufhin unverzüglich in Untersuchungshaft einzufinden hat. Lars Moewigs persönliche familiäre Situation, die sich ebenfalls am Abgrund befindet, macht das Ganze nicht besser und lässt den Leser an einer wirklich ungewohnt kritischen und aufgeladenen Erlebnissen, Gedanken und Gefühlen teilhaben.

Michael Tskokos Schreibstil ist somit einzigartig und für Thriller-Liebhaber ein unersetzlicher Autor, auch wenn man deutlich den Unterschied zu seinen gemeinsamen Werken mit Sebastian Fitzek erkennen kann. Sie ergänzen sich beide wirklich hervorragend. Volle Buchempfehlung für lesehungrige Thrillerfans, die ihre Lust auf Horror und Brutalität wieder stillen möchten! :)