Die schroffe Brutalität der Kategorien

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owenmeany Avatar

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Heikelster Themen nimmt sich Yanagihara mit umwerfender Wucht und zärtlicher Sensibilität an, das ist mir schon klar seit "Ein wenig Leben" und "Das Volk der Bäume". Meistens geht es um die Liebe in all ihren Facetten, sie ist der Lichtstrahl, den sie in ihren Geschichten wie durch einen Kristall bündelt und aufsplittet in die Spektralfarben, dabei in unbezweifelbarer Selbstverständlichkeit die gleichgeschlechtliche.

So auch im vorliegenden Werk, dreigeteilt, vordergründig angelegt als historischer Roman, zeitgenössische Gesellschaftsstudie und verstörende Dystopie. Wie über glattes Eis führt sie die Leser, um die trügerische Sicherheit, die sie mit ihrem einschmeichelnden Ton erzeugt, gleich wieder zu konterkarieren durch Sand im Getriebe, wie z.B. die Anachronismen im Teil eins. Es fordert schon eine wache Aufmerksamkeit, sich nicht zu verirren in den Fährten, die sie auslegt: Namensgleichheit über die Teilstücke hinweg bezeichnet keineswegs dieselbe Person, aber man bleibt daran hängen und denkt noch einmal nach über die möglichen Bezüge.

Süffig ging mir der Anfang ein. In der Tradition von Auster, Tartt, Franzen und Oates bietet sie routiniertes Storytelling in fein ziselierten Sätzen. Die literaturgeschichtsträchtige Adresse Washington Square dient als Schauplatz einer bemerkenswert kultivierten Familie, deren Dialoge mich "very sophisticated" wie mit einem Gespinst aus Zuckerwatte umhüllen, bis mich die eingebauten Dissonanzen aufrütteln. Assoziationen anderer Romane wie "Underground Railroad" drängen sich auf, die beschriebenen Charaktere könnte sich Dickens ausgedacht haben.

Im zweiten Teil kommt der Rassismus und die Ausbeutung Hawaiis ins Spiel, auch AIDS wird als gegebene Tatsache beleuchtet. Vom Schicksal des Vaters erfährt man aus zweiter Hand, für mich bleibt dieser Handlungsstrang deshalb merkwürdig blass, und ich konnte mich des Verdachts nicht ganz erwehren, dass Yanagihara hier ihrer Herkunft gerecht werden will und dann doch nicht tief genug einsteigt. Diesem Sujet sollte sie lieber noch ein vollständiges Buch widmen.

Wie alle Dystopien verbreitet Teil drei Angst und Schrecken. Die grassierenden Seuchen haben die Gesellschaft in eine strenge Diktatur verwandelt, die die Einzelnen großenteils ihrer Persönlichkeit entkleidet. Anrührend, wie Yanagihara die Gefühle als winzige Pflänzchen wachsen lässt, die sich in jede Fuge des Betons krallen und an einem Staubkrümel und einem Wassertropfen gedeihen.

Um diesem Opus gerecht zu werden, bräuchte es lange Abhandlungen schon aufgrund von dessen Fülle von 900 Seiten. Es strengt einerseits an, dennoch habe ich den Wälzer schnell bewältigt aufgrund des nie abreißenden Spannungsbogens. Man sollte sich als Liebhaber zeitgenössischer Lektüre unbedingt dieser Herausforderung stellen - es lohnt sich. Wer sich darauf einlässt, erweitert in mancherlei Hinsicht seinen Horizont durch Ein- und Ausblicke, und das ist ja das Hauptanliegen engagierter Literatur.