Hinfort...

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1893, 1993, 2093 – drei Jahrhunderte, eine Geschichte. In einer Welt, wie sie auch hätte sein können, begegnet im ausgehenden 19. Jahrhundert David Edward in New York. Sie lernen sich kennen, lieben – doch Klasse, Stand sowie ein Meer aus Halbwahrheiten und Geschichten stehen ihnen im Weg. 100 Jahre später: Ein anderer und doch ähnlicher David liebt Charles, der einige Jahre älter ist. Zwischen diesen beide Liebenden: Die Wellen der Vergangenheit, Davids Kindheit auf Hawaii, sein Vater und seine Familie, einstmals große Namen im Inselstaat. Noch einmal 100 Jahre später ist die Welt eine andere, von Pandemien immer wieder heimgesucht, die Menschen jeglicher Freiheiten beraubt und in starre Korsette gezwungen. Inmitten dieser Dystopie: Charlie, die so anders ist, verheiratet worden mit einem Mann, der gut zu ihr ist, aber wo ist die Liebe? Ihr mittlerweile verstorbener Großvater, bei dem sie aufgewachsen ist, hat alles für sie vorbereitet, den Weg heraus aus einer Gesellschaft, die kurz vor dem finalen Zerbrechen steht, den Weg heraus – zum Paradies...

„Was war das Leben wert, wenn es ihm nicht eine noch so geringe Aussicht bot, das Gefühl zu haben, dass es wirklich ihm gehörte, dass es bei ihm lag, es zu meistern oder zu zerstören, es wie Lehm zu formen oder wie Porzellan zu zerschlagen!“ (S. 207)

Wohin mit all den Superlativen? Diese Frage stellt man*frau sich bei den Lektüren von Yanagiharas Romanen unweigerlich, und – so viel sei vorweggenommen – unbedingt auch bei „Zum Paradies“. Das Roman-Epos entwickelt auf 900 Seiten eine Kraft, einen Sog, der besonders in der zweiten Hälfte zusehends in gesellschaftliche Abgründe, in Debatten um Klassismus, Rassismus, Homophobie führt.

Strukturell wie auch erzählerisch fährt Yanagihara ganz große Geschütze auf und trifft mitten ins Schwarze, dahin, wo es weh tut. Ausgehend von einer abweichenden Realität, die auf den ersten Blick viel besser erscheint als die tatsächliche, in der Homophobie im Jahr 1893 kein Thema zu sein scheint – auf den ersten Blick! - erzählt sie in allen drei Jahrhunderten die Geschichten von Menschen auf der Suche nach dem ganz persönlichen Glück. Die Namen der Protagonist*innen in den drei Abschnitten kehren dabei immer wieder – David, Charles, Edward... -, ebenso die Motiviken und Beziehungsgeflechte. Ein großes Ganzes entsteht, virtuos zusammengehalten, das von den Aberrationen lebt, von den mal kleinen, mal deutlicher zu Tage tretenden Abweichungen zwischen 1893, 1993 und 2093. Yanagihara legt immer wieder Fährten aus; man begibt sich auf eine kleine detektivische Spurensuche, gräbt nach den Verbindungen, die alles zusammenhalten. Das macht nicht nur wahnsinnig Spaß, sondern ist auf der narrativen Ebene so extrem virtuos, dass man sich vor der Kunstfertigkeit verbeugen möchte. Gleichzeitig gelingt es ihr auch noch, die Erzählung zu einem emotionalen Feuerwerk zu machen, das mal Funken sprüht, mal ganz leise daherkommt, aber permanent berührt.

Mit extremer Liebe zum Detail, einem feinsinnigen Gespür für ihre Vielzahl an Charakteren und einem gesellschaftskritischen, weltumfassenden Anspruch hat Hanya Yanagihara mit „Zum Paradies“ wahrscheinlich DEN Roman der Stunde geschaffen. Der Gegenwartsbezug ist nicht zu leugnen, und die Welt der Zukunft, die hier skizziert wird, erscheint (leider!) gar nicht einmal so weit entfernt. Ein literarisches Mahnmal für unsere Zeit! Wer in den kommenden Monaten nur die Stunden für ein einziges Buch findet, die*der sollte „Zum Paradies“ lesen, DEN schon jetzt modernen Klassiker unserer Gegenwart und nahen Zukunft!