Alttestamentarisch

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Hattie Shepherd ist fünfzehn, als sie mit ihrer Mutter den Zug nach Philadelphia besteigt: Weiße haben ihren Vater ermordet und sich sein Geschäft angeeignet; dort, so hoffen sie, können sie wirklich freie Menschen sein. Sie sind Teil der ersten Great Migration, die zwischen 1910 und 1930 1,5 Millionen Afroamerikaner aus dem ländlichen Süden in die Städte des Nordens trieb. Aber der Norden ist kalt – nicht nur sein Klima ist es; auch hier wird, wenn auch nicht so bösartig wie in Georgia, die Rassentrennung praktiziert.

Keine zwei Jahre später ist Hattie verheiratet mit August, der das wenige Geld, das er verdient, lieber in Bars und für Liebschaften ausgibt als für seine stetig wachsende Familie. Hatties Leben ist fortan ein ständiger, zermürbender Kampf gegen das Elend der Armut, und selten kann sie mehr erreichen als das bloße Überleben ihrer Kinder.

Elf Kapitel hat das Buch; jedes schreibt die Zeit fort, beginnend im Jahr 1925 und endend 1980 mit Hatties Enkelin Sala, und jedes ihrer Kinder plus der Enkelin ist eines der zwölf Leben, auf das der deutsche Titel sich bezieht. Das erste Kapitel beginnt mit Hatties erstgeborenen Zwillingen, die sie mit Blick auf ihr neues Leben im Norden euphorisch Philadelphia und Jubilee nennt, und die im ersten frostigen Winter an Lungenentzündung sterben. Dieser Verlust, den sie im Alter von gerade einmal 17 Jahren erleidet, lässt etwas in ihr vereisen und löst gleichzeitig einen immerwährenden Zorn aus, der sie ihr Leben lang nicht verlassen wird. Ihr Ältester Floyd leidet an seiner Homosexualität; Six überlebt knapp schwerste Verbrühungen; die Adoption ihrer Letztgeborenen Ella durch ihre Schwester Pearl wird Hattie nie verwinden; Ruthie ist das Kind von Lawrence, mit dem Hattie vergeblich ihrer Ehe zu entfliehen hofft. Alice und Billups leiden lebenslang an den Folgen sexuellen Missbrauchs; Franklin, haltlos wie August, leidet an drogeninduzierten Halluzinationen, Bell kann ihrer Todessehnsucht nicht widerstehen; Cassie muss in die geschlossene Psychiatrie eingeliefert werden; und mit Cassies Tochter Sala steht Hattie im Alter von 77 Jahren vor derselben Herausforderung wie ganz am Anfang ihres Lebens: „Hier sind wir, seit 60 Jahren aus Georgia fort, (…) eine neue Generation ist geboren, und immer noch gibt es dieselben Verletzungen, denselben Schmerz.“

Mathis´ Figuren erlangen eine Tiefe, die ich selten erlebt habe. Jedes der geschilderten Leben wirft sein Schlaglicht auch auf Hattie und die Geschwister, wodurch eine subtile Kohärenz entsteht. Jedes der Kinder reibt sich an der unbeugsamen Hattie, deren Kraft zwar ausgereicht hat, neun Kinder großzuziehen, nicht aber, um sie zu lieben auf eine Art, die sie hätten spüren können: Ihre Zärtlichkeit ist eine, „die immer auch hart war.“ Aber nicht nur an der mangelnden Liebe ihrer Mutter kranken Hatties Kinder; es ist die Härte der Lebensumstände; die Missachtung der schwarzen Mitbürger durch die Weißen; die allgegenwärtige Ungerechtigkeit und die daraus resultierende Armut.

Mathis orientiert sich - der Originaltitel „The Twelve Tribes of Hattie“ deutet darauf hin – am biblischen Motiv der 12 Stämme Israels und nimmt dabei die reiche religiöse Tradition der Afroamerikaner auf. Hattie ist die „Erzmutter“, das kraftvolle Zentrum, um das ihre Stämme kreisen. Ein weiteres Motiv des Romans sind die Prüfungen Hiobs, wobei Hattie in ihrer zornigen Rechtschaffenheit einen weiblichen Hiob verkörpert; dadurch bekommt ihre Geschichte der mannigfachen Heimsuchungen etwas nahezu Alttestamentarisches. Trotz dieser Tradition lässt Mathis ihre Heldin jedoch der Illusion religiösen Trostes widerstehen; Hattie verlässt sich bis zum Schluss allein auf ihre zornige Kraft – wenn diese Kraft mit der Zeit auch mildere Ausdrucksformen findet.

Die mitreißende Tragik der „Zwölf Leben“ hat mich traurig gemacht und manchmal verstört, aber dennoch hat der Roman nichts Deprimierendes, im Gegenteil. Hattie und ihre Kinder lassen uns verstehen: Der Weg der Stämme ins Gelobte Land ist noch nicht zu Ende; sie sind noch lange nicht angekommen. Aber ihre Kraft reicht noch weit, und niemand kann sie aufhalten.