Leiden wie Hiob

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buecherfan.wit Avatar

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Ayana Mathis´ Debütroman “Zwölf Leben” (im Original “The Twelve Tribes of Hattie” in Anspielung auf die zwölf Stämme Israels) umfasst eine Zeitspanne von 55 Jahren (1925-1980) und erzählt das schwere Leben von Hattie Sheperd und ihrer Familie. Nach dem Mord an Hatties Vater verlässt ihre Mutter mit den drei Töchtern Georgia und geht nach Philadelphia. Zwei Jahre später ist Hattie 17 Jahre alt, mit August verheiratet und hat die Zwillinge Philadelphia und Jubilee bekommen. Die Namen der Kinder zeigen, welch große Hoffnungen die junge Familie in ihre Zukunft im Norden gesetzt hatte. Es kommt jedoch anders. Im ersten kalten Winter sterben die sieben Monate alten Zwillinge an Lungenentzündung, weil die Familie zu arm ist, um ihr Haus zu heizen und Medikamente zu bezahlen. Hattie wird sich von diesem Schicksalsschlag nie erholen. Sie ist verbittert und voller Wut, weil ihr Mann ihr das versprochene bessere Leben nicht bieten kann und das dringend benötigte Geld lieber in Bars mit anderen Frauen verprasst. Hattie bekommt neun weitere Kinder, eins davon - Ruthie - mit ihrem Liebhaber Lawrence, mit dem sie einen Ausbruchsversuch wagt. Als sie erkennt, dass er sie genau so enttäuschen wird wie ihr Ehemann, kehrt sie noch am selben Tag zu Mann und Kindern zurück.

In kunstvoll miteinander verwobenen Geschichten präsentiert Mathis die Porträts der Kinder und ihrer Enkelin Sala nicht chronologisch, sondern zu einem bestimmten Zeitpunkt ihres Lebens. Alle sind geprägt von ihrer Herkunft, von materieller Not und psychisch beschädigt durch Hatties Mangel an Liebe und Zärtlichkeit. Sie kämpft zwar wie eine Löwin für ihr Überleben, zeigt sich ihrer Familie jedoch ein Leben lang als harte und sehr zornige Frau. Ihre Söhne und Töchter repräsentieren, was es an Schicksalsschlägen und Fehlentwicklungen in einer Familie nur geben kann. Hattie gibt nie auf, verzweifelt nicht und findet zuletzt - zwar nicht vorbehaltlos und uneingeschränkt wie August - den Weg zurück zur Kirche.

In diesem Roman spielt der zeitgeschichtliche Hintergrund eine wichtige Rolle, vor allem die Great Migration, eine Migrationsbewegung in zwei Etappen, durch die mehr als 6 Millionen Farbige aus den ländlichen Gebieten der Südstaaten in den Norden, Nordosten und Westen der USA zogen, um dort Arbeit zu finden und den fast 100 Jahre (1876-1964) geltenden Gesetzen der Rassentrennung und -diskriminierung (Jim Crow Laws) zu entkommen. Sie überquerten dabei die Mason-Dixon-Linie, eine im Roman mehrfach erwähnte imaginäre, in Ost-West-Richtung verlaufende Grenze zwischen den rassistischen Südstaaten und dem gelobten Land im Norden. Mathis´ Roman ist dabei insofern nicht repräsentativ, als es den meisten Migranten im Gegensatz zu Hattie Sheperd und ihrer Familie im Norden tatsächlich besser ging. In vielen Details legt die Autorin jedoch Wert auf historische Genauigkeit, zum Beispiel wenn sie im Fall von Hatties Vater zeigt, dass viele rassistische Verbrechen von Weißen an Schwarzen in Wirklichkeit einen wirtschaftlichen Hintergrund hatten: die Mörder eignen sich die Schmiede des Vaters an.

Mir hat der Roman sehr gut gefallen, vor allem Hattie als zentrale archetypische Mutterfigur. Ich fühlte mich oft an Mathis` berühmtes Vorbild Toni Morrison erinnert, aber auch an Alice Walker und Zora Neale Hurston mit  “Their Eyes Were Watching God”, dem Klassiker aus dem Jahr 1937. Ein sehr empfehlenswertes Buch.