Die Welt ist, wie sie ist

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buecherfan.wit Avatar

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Fast ein Vierteljahrhundert nach Restoration (1989, dt.: Des Königs Narr, 1991) legt Rose Tremain eine Fortsetzung der Geschichte um ihren Protagonisten, den Arzt Sir Robert Merivel vor, die fünfzehn Jahre nach Ende des ersten Teils einsetzt. Merivel ist knapp 57 Jahre alt und lebt seit geraumer Zeit wieder auf Bidnold Manor, das ihm von König Charles II. zusammen mit einer großzügigen, “loyer” genannten Leibrente geschenkt worden war. Durch einen Vertrauensbruch war Merivel in Ungnade gefallen und hatte alles verloren. Während dieser Jahre arbeitete er bei seinem verstorbenen Freund, dem Quäker John Pearce in einem Irrenhaus, wo er sich in eine Insassin verliebte, die Mutter seiner geliebten Tochter Margaret wurde, aber leider bei der Geburt starb. Seit der König ihm Bidnold Manor zurückgegeben hat, lebt er dort mit seinem Diener Will Gates und der übrigen Dienerschaft und kümmert sich um Margaret. Seine Tochter ist siebzehn Jahre alt und wird ihn bald verlassen.
Merivel ist älter, ruhiger, aber nicht unbedingt sehr viel weiser geworden. Er war früher ein Lebemann, der den König vor allem mit seinen Späßen erheiterte. Inzwischen leidet er zunehmend an Melancholie und bricht zum Entsetzen seines Dieners immer wieder ohne erkennbaren Grund in Tränen aus. Er hat Angst vor der Zukunft und malt sich sein Ende aus. Auch Diener Will und der Koch sind gebrechlich geworden und können ihre Arbeit nicht mehr zuverlässig erledigen. Seine Tochter rät ihm, eine wissenschaftliche Untersuchung in Angriff zu nehmen, um seinem Leben Sinn und Bedeutung zu verleihen. Er wird sich Montaigne zum Vorbild nehmen und später an einer Abhandlung mit dem Titel “Betrachtungen über die Tierseele” arbeiten. Als die Tochter von den befreundeten Nachbarn zu einer längeren Reise nach Cornwall eingeladen wird, beschließt Merivel, an den französischen Hof in Versailles zu gehen und Louis XIV. seine Dienste als Leibarzt anzubieten.
Mit einem Empfehlungsschreiben seines Königs macht er sich auf den Weg, aber es kommt alles ganz anders als geplant. Er lebt mit einem holländischen Uhrmacher in einer kleinen Unterkunft und wartet vergeblich darauf, beim König vorgelassen zu werden. In Louise de Flamanville glaubt er, der Liebe seines Lebens zu begegnen, aber die charmante Dame ist mit einem homosexuellen Oberst der Schweizer Garde verheiratet, der diese Ehe eingegangen ist, um den Schein zu wahren. Merivel kehrt nach England zurück und findet seine Tochter an Typhus erkrankt vor. Es beginnt eine schwere Zeit, denn auch eine frühere Geliebte von Merivel ist todkrank. Schließlich fährt er zu Louise in die Schweiz. Auch in dieser Phase nehmen die Missgeschicke kein Ende. Louise bedrängt ihn mit ihrer Leidenschaft, und Merivel muss sich entscheiden. Doch bevor es dazu kommt, braucht ihn sein kranker König. Er geht zurück nach England, und das Schicksal nimmt seinen Lauf.
Rose Tremain hat einen sehr gut lesbaren Roman über eine vergangene Epoche geschrieben, indem sie das Leben einer fiktiven Figur - Sir Robert Merivel - in einen konkreten historischen Kontext einbettet. Dabei erstreckt sich die Romanhandlung über den Zeitraum von November 1683 bis März 1685. Es ist das Ende der Regierungszeit des Stuartkönigs Charles II, der nach Ende der republikanischen Phase (1649-1659 ) unter den Cromwells und der Wiedereinsetzung der Monarchie im Jahr 1660 fünfundzwanzig Jahre lang regierte. Der Leser erfährt viel über die Zeit: die Lebensumstände der zum großen Teil in unvorstellbarer Armut lebenden Bevölkerung, ihre Furcht, dass ein neuer Monarch das Land vielleicht wieder in endlose Kriege stürzen könnte, das von Luxus und Genussstreben bestimmte Leben der Adligen und Günstlinge des Königs, über Mode, Architektur und Einrichtungsgeschmack, über Landschaftsgärtnerei und vor allem über die Praktiken der Ärzte, die vielen ihrer Patienten den Tod brachten. Die drastischen Beschreibungen dieser Methoden wirken sehr authentisch - genauso wie die ausgiebige Erörterung von Körperfunktionen und die teilweise recht derben sexuellen Begegnungen. In gelegentlich altertümlicher Sprache unterstützt die Übersetzerin dieses Streben nach Authentizität. Wann hat man schon zuletzt über einen Hahnrei gelesen?
“Adieu, Sir Merivel” ist jedoch nicht bloß ein historischer Roman - die Autorin wehrt sich im übrigen vehement gegen diese Kategorisierung -, sondern trägt auch deutlich pikareske Züge durch die Darstellung von Merivels von zahllosen Missgeschicken gekrönten Reisen, seinen vielfältigen Erfahrungen und Begegnungen. Der Roman ist zwar in einer fernen Epoche angesiedelt, überzeugt aber vor allem durch den sehr differenziert ausgearbeiteten sympathischen Protagonisten, in dessen wechselvollem Leben es zwei Konstanten gibt: die Liebe zum König und die tiefe Liebe zu seiner Tochter. Am Ende seines Lebens zieht Merivel kritisch Bilanz. Er bedauert seine Unzulänglichkeit und bereut seine Fehler. Auf diese Weise vermittelt Tremains Roman auch zeitlos Gültiges über die conditio humana: So sind die Menschen, und “Die Welt ist, wie sie ist.” (S. 446)