Jüdin, Kommunistin, Agentin, Mutter, Geliebte – die vielen Gesichter der Ursula Kuczynski

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Als ich in den 1970er Jahren im Verlag Neues Leben – der Jugendbuchverlag der DDR – in Ostberlin arbeitete, erschien dort das Buch „Sonjas Rapport“ von Ruth Werner. Obwohl zensiert und gekürzt durch die Stasi und die ZK-Kulturabteilung, brachte es das geheime Leben der Autorin einer breiten Leserschaft nahe. Ruth Werner, unter diesem Namen war Ursula Kuczynski in der DDR bekannt, war 1950 in die DDR gekommen, nachdem ihre Tarnung aufgeflogen war. Sie erlebte die DDR als einen sozialistischen deutschen Staat, das war ja auch einmal ihr Kampfziel gewesen, aber sie erlebte auch Misstrauen gegen sich selbst als Westemigrantin und Missgunst ob ihres Lebensstils. In solch geistig engen Verhältnissen zu leben, muss sie ebenso geschmerzt haben wie die Enthüllungen über den Stalinismus. Hatte sie für die richtige Sache gekämpft? Eine Frage, die sie trotz allem immer mit ja beantwortet hat. Wie sie wohl über den Film dachte, der 1982 in der DDR nach ihrem Buch gedreht wurde? Aber ins Herz ließ sie sich nur selten schauen. Sie erlebte noch im hohen Alter den Fall der Mauer und das Verschwinden der Sowjetunion. Im Jahr 2000 verstarb sie mit 93 Jahren. 1991 wurde ihre Autobiographie „Sonjas Rapport“ erstmals ungekürzt veröffentlich, zuerst auf Englisch, 2006 auch auf Deutsch.
Der Autor Ben Macintyre hat sich vor einigen Jahren daran gemacht, das außergewöhnlich Leben von der Frau mit den vielen Namen unter dem Titel „Agent Sonya“ ausführlich zu beleuchten. Mich haben zuerst die von ihm aufgezählten Quellen interessiert, diese gehen weit über Sonjas Rapport hinaus, Tausende Seiten Staatssicherheitsakten, Bundesarchivdokumente, MI5-Akten, viele Briefe, Bücher und Dokumentationen hat der Autor für sein Werk gesichtet. Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie anstrengend gerade das Aktenstudium sein kann, Geheimdienstakten neigen zu einer endlosen Ausführlichkeit, die wirklich relevanten Extrakte muss der Leser mühsam herausfiltern. Über die vermutlich jetzt noch beim FSB in Moskau oder in russischen Militärarchiven lagernden Akten wird nicht berichtet.
Entstanden ist ein beeindruckendes Buch, dass sich teilweise wie ein spannender Agententhriller liest. Würde man manche Details in einem Roman finden, würde man dem Schriftsteller sicher eine besondere Phantasie bescheinigen – in Agent Sonja beruhen diese unfassbaren Details auf tatsächlichen Ereignissen und Erlebnissen. Ich glaube, es gäbe heute nur wenige Menschen, die bereit wären, so große Risiken auf sich zu nehmen für ein rein ideelles Ziel. Dass für „Sonja“ das Leben kein Zuckerschlecken wird, konnte man schon an den Schilderungen über die überaus eigenwillige Jugendliche im Berlin der Zwanziger Jahre erkennen. Wie sie später ihr Weg um die halbe Welt führt, wie sie zu einer Topagentin wird, wie sie das versucht mit ihrem Privatleben und mit ihren insgesamt drei Kindern von drei verschiedenen Männern unter einen Hut zu bringen, das wird aufs Anschaulichste beschrieben. Gerade was die Kinder betrifft, die ständiger Gefahr und einem unsteten Leben ausgesetzt waren, wird „Sonja“ immer ein schlechtes Gewissen behalten, bis ins Alter.
Ich werde an dieser Stelle weder die Kurzbeschreibung vom Klappentext noch die einzelnen Schritte ihrer Agententätigkeit wiederholen. Dazu gibt es bereits ausreichend Kommentare und Rezensionen.
Aber ich möchte auf die Übersetzung eingehen, die von zwei Übersetzern – Kathrin Bielfeldt und Jürgen Bürger – übernommen worden ist. Ich habe einen Teil des Buches im englischen Original gelesen und kann hier nur feststellen, dass die Übertragung den Stil des Autors perfekt wiedergibt. Dass sich in die deutsche Fassung das Gendern bzw. die heute geforderte „political correctness“ an manchen Stellen eingeschlichen hat, störte mich ein wenig. Nur zwei Beispiele: Aus Flüchtlingen (den englischen refugees) werden Geflüchtete, Kandidaten sind plötzlich Kandidierende. Ganz anders wird mit dem Titel umgegangen, hier wird das englische „agent“ im Deutschen ein „Agent“. Warum wurde hier nicht die weibliche Form gewählt „Agentin Sonja“ liest sich doch auch gut. Oder soll hier die Ebenbürtigkeit zu den männlichen Agenten hervorgehoben werden? Auch der eine oder andere Übersetzungsfehler ließ mich stutzen.
Mir hat dieses Buch sehr gefallen, ich habe noch einmal das alte Buch von 1977 hervorgeholt und mir „Sonjas Rapport“ angesehen. Macintyers Buch ist nicht nur viel umfangreicher, es gibt auch Einblicke, die Ruth Werner 1977 nicht gewährte, nicht gewähren wollte und auch nicht durfte.
Dieses Zitat (S. 120) erscheint mir sehr bezeichnend für die gesamte Biographie: „Ursula wurde dem Proletariat und der Revolution zuliebe eine Spionin; doch sie tat es auch für sich selbst, getrieben von einer außerordentlichen Kombination aus Leidenschaft, Romantik und Abenteuerlust, die in ihr sprudelten.“
Diese Biographie ist es wert, gelesen zu werden, ich könnte mir auch gut vorstellen, dass hier ein Hörspiel, ein Podcast, vielleicht ein Film oder eine TV-Dokumentation das Thema noch einmal aufgreifen werden. Für mich ist das Buch Anlass, mich dem einen oder anderen der im Buch erwähnten Kampfgefährten zu beschäftigen, seien es Agnes Smedley oder Richard Sorge oder ihre Ehemänner, auch Ursulas Kinder und Geschwister haben ja interessante Biografien. Die Ausgewählte Bibliografie verzeichnet hinreichend Lesestoff.
Vielen Dank an Verlag und Autor.